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16.3.23

Octavio Paz – Tanghi-Garu-Pass

 


Tanghi-Garu-Pass

Ein belastetes Land:
Der Winter hat es mit seinen Waffen gezeichnet,
Dornenkleid war der Frühling.

Berge von Glimmer. Schwarze Ziegen.
Unter den schlafwandlerischen Hufen
Schimmert missbilligend der Schiefer.

Feststehende Sonne, angenagelt
An die riesige steinerne Narbe.
Der Tod denkt uns.

– Octavio Paz

Titel des spanischen Originals: Paso de Tanghi-Garu. Aus: Octavio Paz, Ladera Este, 1969. Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz. Der Pass im Titel des Gedichts, auch Tang-e Ghārō geschrieben, befindet sich in Afghanistan an der Strecke von Dschalalabad nach Kabul.

Foto von Octavio Paz von Ricardo Salazar

20.9.20

Yannis Ritsos - Vollständigkeit, beinahe

 VOLLSTÄNDIGKEIT, BEINAHE

Weißt du, den Tod gibt es nicht, sagte er zu ihr.
Ich weiß, ja, jetzt, nachdem ich tot bin, antwortete sie.
Deine zwei Hemden sind gebügelt und in der Schublade,
das einzige, was ich vermisse, ist eine kleine Rose.

– Yannis Ritsos

Übertragen von Johannes Beilharz. Titel des griechischen Originals: ΣΧΕΔΟΝ ΠΛΗΡΟΤΗΤΑ.

Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung


15.6.20

Allen Ginsberg – An Lindsay



An Lindsay

Vachel, die Sterne sind rausgekommen
Dämmerung liegt auf der Straße in Colorado
ein Auto kriecht langsam über die Ebene
im gedämpften Licht plärrt Jazz aus dem Radio
der Verkäufer mit gebrochenem Herzen zündet sich eine weitere Zigarette an
In einer anderen Stadt vor 27 Jahren
sehe ich deinen Schatten an der Wand
du sitzt in Hosenträgern auf dem Bett
die Schattenhand hält dir eine Pistole an den Kopf
dein Schatten fällt um und zu Boden

Paris 1958

– Allen Ginsberg

Das Original To Lindsay stammt aus Kaddish and Other Poems 1958-1960, erschienen 1961 bei City Lights Books in San Francisco. Übertragen aus dem amerikanischen Englisch von Johannes Beilharz. Das Gedicht bezieht sich auf Vachel Lindsay (1873-1931), einen zu Lebzeiten recht bekannten amerikanischen Dichter.

12.6.20

Ernst Stadler – In der Frühe


In der Frühe

Die Silhouette deines Leibs steht in der Frühe dunkel vor dem trüben Licht
Der zugehangnen Jalousien. Ich fühl, im Bette liegend, hostiengleich mir zugewendet dein Gesicht.
Da du aus meinen Armen dich gelöst, hat dein geflüstert »Ich muß fort« nur an die fernsten Tore meines Traums gereicht –
Nun seh ich, wie durch Schleier, deine Hand, wie sie mit leichtem Griff das weiße Hemd die Brüste niederstreicht ...
Die Strümpfe ... nun den Rock ... Das Haar gerafft ... schon bist du fremd, für Tag und Welt geschmückt ...
Ich öffne leis die Türe ... küsse dich ... du nickst, schon fern, ein Lebewohl ... und bist entrückt.
Ich höre, schon im Bette wieder, wie dein sachter Schritt im Treppenhaus verklingt,
Bin wieder im Geruche deines Körpers eingesperrt, der aus den Kissen strömend warm in meine Sinne dringt.
Morgen wird heller. Vorhang bläht sich. Junger Wind und erste Sonne will herein.
Lärmen quillt auf ... Musik der Frühe ... sanft in Morgenträume eingesungen schlaf ich ein.

– Ernst Stadler (1883-1914)

Quelle: Ernst Stadler, Der Aufbruch (1914)

Selbst heute noch oder wieder ist das schmale Werk von Ernst Stadler im Buchhandel erhältlich, z. B. bei Amazon.

3.6.20

Robert Creeley – Kiki


Kiki

World in a
plastic octa-
gon from a
most perspica-
cious daughter.

❍❖❍❖❍❖❍❖

Kiki

Welt in einem
Plastikokta-
gon von einer
höchst scharf-
sinnigen Tochter.

– Robert Creeley

Aus: Robert Creeley, A Day Book, 1972. Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz.

29.5.20

Stefan George – Ich bin der Eine


Ich bin der Eine und bin Beide
Ich bin der zeuger bin der schooss
Ich bin der degen und die scheide
Ich bin der das opfer bin der stoss
Ich bin die sicht und bin der seher
Ich bin der bogen bin der bolz
Ich bin der altar und der fleher
Ich bin das feuer und das holz
Ich bin der reiche bin der bare
Ich bin das zeichen bin der sinn
Ich bin der schatten bin der wahre
Ich bin ein end und ein Beginn

Stefan George

Aus: Der Stern des Bundes (1914)

24.5.20

Arrhythmie – ein Mikrogedicht von Ajo


Arrhythmie

Ich hasse die Liebe 
und hasse sie außerdem 
mit deinem Herzen.

✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ 

Aritmia

Odio el amor 
y además lo odio 
con tu corazón.

– Ajo (© 2004)

Übertragung ins Deutsche von Johannes Beilharz (© 2020)

15.5.20

William Carlos Williams: Komm schon!

Komm schon!

Eine andere Art von Gedanke
fader
und verzweifelter
wie jener von
Sergeant Soundso
an der Straße
in Belleau Wood:
Komm schon!
Willst du ewig
leben? –
Das
ist das Wesen
der Dichtung.
Aber sie nimmt nicht
immer
dieselbe Form an.
Größtenteils
besteht sie
daraus,
der Nachtigall
zuzuhören
oder Narren.

William Carlos Williams, Come on!, aus Pictures from Brueghel and other poems, New Directions, 1962.

Aus dem Amerikanischen von Johannes Beilharz (Copyright © 2020).

8.5.20

Minimale Philosophie

Filosofia minimale

Io butto
tutto

– Iself (© 2020)

Dies ist in diesem schönen sonnenverwöhnten Lande (wie auch anderswo) leider Gottes eine Philosophie, die viele Anhänger hat.

Zur Verdeutlichung für die der italienischen Sprache nicht mächtige Leserschaft hier auch gleich eine deutsche Version:

Minimale Philosophie

Auch ohne Sinn und Zweck:
ich schmeiße einfach alles weg

– Iself (© 2020)

29.3.19

W. S. Merwin – Es ist März

Es ist März

Es ist März und schwarzer Staub fällt aus den Büchern
Bald werde ich weg sein
Der große Geist der hier gelebt hat
Ist schon gegangen
Auf den Alleen liegt der farblose Faden unter
Alten Preisen

Wenn du zurückschaust ist da immer die Vergangenheit
Selbst wenn sie verschwunden ist
Aber wenn du nach vorne schaust
Mit deinen schmutzigen Knöcheln und dem flügellosen
Vogel auf der Schulter
Was kannst du da schreiben?

Die Bitterkeit steigt in den alten Minen immer noch hoch
Die Faust kommt aus dem Ei
Die Thermometer aus den Mündern der Leichen

In einer bestimmten Höhe
Sind die Schwänze der Drachen einen Augenblick lang
Von Fußschritten bedeckt

Was immer ich zu tun habe hat noch nicht begonnen

(It Is March, 1964)

Deutsche Übertragung von Johannes Beilharz zu Ehren des amerikanischen Dichters W. S. Merwin, am 15.3.2019 im Alter von 91 Jahren verstorben.

8.1.19

Übersetzungen in Arbeit

Bevor sich hier die Todesstille voll verbreitet ... ich arbeite schon seit längerer Zeit an Übersetzungen von Gedichten mehrerer Autoren aus dem Englisch und Spanischen.

Sie werden irgendwann in nächster Zeit hier und anderswo auftauchen.

15.5.17

Paul Eluard: Ich liebe dich

Ich liebe dich

Ich liebe dich für alle Frauen, die ich nicht gekannt habe
Ich liebe dich für alle Zeiten, die ich nicht gelebt habe
Für den Geruch des weiten Meers und den Geruch des warmen Brots
Für den schmelzenden Schnee, für die ersten Blumen
Für die unschuldigen Tiere, die der Mensch nicht erschreckt
Ich liebe dich um zu lieben
Ich liebe dich für alle Frauen, die ich nicht liebe

Wer spiegelt mich besser als du, ich sehe mich so wenig
Ohne dich sehe ich nichts als eine wüste Weite
Zwischen einst und heute
Da sind alle diese Tode, die ich auf Stroh überwand
Ich konnte die Mauer meines Spiegels nicht durchbrechen
Ich musste das Leben Wort für Wort erlernen
Wie man vergisst

Ich liebe dich für die Klugheit, die nicht meine ist
Für die Gesundheit
Ich liebe dich gegen alles, was nur Illusion ist
Für dieses unsterbliche Herz, das nicht mir gehört
Du glaubst Zweifel zu sein und bist doch nur Vernunft
Du bist die große Sonne, die mir in den Kopf steigt
Wenn ich mir meiner sicher bin.

– Paul Eluard

(Übersetzung aus dem Französischen von Johannes Beilharz. Die Vorlage stammt aus Le phénix, 1951)

18.10.16

Das hermetische Haiku

Es ist verschlossen,
viermal verschlossen – Gefühl,
Gehör, Klang, Ort.

– Iself (© 2016)

Anmerkung
So ziemlich symptomatisch für das Schweigen dieses Blogs in den letzten Monaten.

4.7.16

Zu Ehren von Yves Bonnefoy

Neuer Beitrag bei Cross Over:

Das Gedicht Delphes du second jour in deutscher Übersetzung von Johannes Beilharz zu Ehren des am 1. Juli 2016 verstorbenen französischen Dichters Yves Bonnefoy erschien ursprünglich bei FixPoetry, das es inzwischen leider nicht mehr gibt..

Yves Bonnefoy

Delphi, zweiter Tag

   

Hier willigt die ängstliche Stimme ein,

Den einfachen Stein zu lieben,

Die Bodenplatten, die die Zeit unterwirft und erlöst,

Den Olivenbaum, dessen Kraft den Geschmack trockenen Steins hat.

 

Die Schritte an ihrem wahren Ort. Die ängstliche Stimme

Glücklich unter den Felsen der Stille,

Und das Unendliche, das unbestimmte Responsorium

Von Kuhglocken, Ufer oder Tod. Kein Erschrecken

Vor deinem hellen Abgrund, Delphi am zweiten Tag.

 

(Delphes du second jour)


Aus dem Französischen von Johannes Beilharz. Das Original stammt aus: Yves Bonnefoy, Hier régnant désert, 1959.

 Zu Ehren von Yves Bonnefoy, geboren am 24. Juni 1923 und verstorben am 1. Juli 2016.

24.4.16

Ezra Pound, Harry Mathews, César Vallejo, Amy Newman


Gedichtübersetzungen, die 2016 bei Cross Over im Feuilleton von FixPoetry erschienen.

Die Rubrik wurde herausgegeben und übersetzt von Johannes Beilharz.

FixPoetry wurde inzwischen aus Gründen mangelnder Finanzierung eingestellt.

Nach und nach werden die dort ursprünglich veröffentlichten Übersetzungen hier erneut ins Internet gestellt.

Neuerdings gelesene Gedichte und ihre Abhaken

Poetry bores me.
– Barbara Guest
✔ fängt mit aufgeblähten rhetorischen Fragen an – ein Nadelstich & sie zerplatzen
✔ schon bei der ersten Zeile kommt heftiges Gähnen
✔ aufgewärmtes Gedanken- und Gefühlsgut von ca. 1 Million anderer Gedichte
✔ aktueller Modeartikel, schnoddrig-nihilistische Machart
✔ oh nein – über Liebe & Tod
✔ oh nein – über Mond & Sehnsucht
✔ oh nein – akademisches Geschwafel eingeleitet von prätenziösem Rilke-Zitat
✔ unnatürliche Beobachtungen so notwendig wie die Faust aufs Auge
✔ Schweigen in der Natur (wäre es doch beim Schweigen geblieben!)
✔ Foto einer Birke weitaus interessanter als das begleitende Gedicht über die von der Birke ausgelösten beglückten & unbeglückten Gefühle & Schwelgereien
✔ Supergähn nach zweieinhalb Zeilen – wie lang geht das noch? Über drei Seiten? Sprung zur letzten Zeile, die das unsägliche Wort unausgesprochen enthält – oder war’s das unausgesprochene Wort unsäglich?
✔ Was sich Delmore Schwartz vielleicht als Kind einmal gedacht haben könnte & die Dichterin mit viel Aufwand & Blabla aus sich herausgewürgt hat
✔ oh nein – über Wolken & das Hintreiben der Zeit
✔ da treibt es jemand arg mit weit hergeholten Adverb- und Adjektivkombinationen
✔ das will originell sein & weist darauf hin, dass der Dichter bisher kaum etwas gelesen hat
✔ Humor auf Kurzhaardackelfußniveau
✔ affektierte lyrische Atemlosigkeit ausgelöst durch das Gekritzel von Cy Twombley im Museum
✔ eindeutig celangehaucht, aber saccharinrosa
✔ schon beim Wordsworth-Zitat verließen sie mich
✔ ein spanisches Gedicht der Art mit vielen unnötigen Adjektiven, so à la gerundeter Kreis
✔ Haiku-ähnliches Ziehen von bereits tausendfach erlegten Schlüssen

– Iself

18.4.16

Ein Haiku von Hiroshi Taniuchi

確かに後悔が一度ノックをした  

Das Bedauern hat
an meine Tür geklopft – ein
Mal, das ist sicher

– Hiroshi Taniuchi

(deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung des Autors)

26.2.16

Oliverio Girondo, Städtische Erscheinung

Stieg er aus dem Untergrund auf?
Fiel er vom Himmel?
Er war umgeben von Lärm,
verwundet,
schwer verletzt,
unbeweglich,
schweigend,
in die Knie gegangen vor dem Abend,
vor dem Unausweichlichen,
die Adern haftend
am Grauen,
am Asphalt,
mit seinem gefallenen Scheitel,
mit seinen Heiligenaugen,
ganz, ganz nackt,
fast blau vor so viel Weiß.

Sie redeten von einem Pferd.
Ich glaube, es war ein Engel.

(Aparición urbana)

Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original wurde 1942 in dem Gedichtband Persuasión de los días veröffentlicht.

Der Dichter Oliverio Girondo (1891 Buenos Aires – 1967 ebenda) gehörte, wie die meisten seiner großen argentinischen Zeitgenossen, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts zum Kreis um die literarische Zeitschrift Martín Fierro – u.a. erschien dort sein surrealistisches Manifest – und blieb unter ihnen den Idealen der argentinischen Avantgarde am meisten treu. Seine Dichtung, die sich durch gewagte Tropen, seltsame Rhythmen, Sprachspielereien, Humor und Ironie auszeichnet, wurde als Abenteuer der Sprache beschrieben. Im Alltäglichen sah er eine bewundernswerte und bescheidene Manifestation des Absurden.

Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung