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26.2.16

Oliverio Girondo, Städtische Erscheinung

Stieg er aus dem Untergrund auf?
Fiel er vom Himmel?
Er war umgeben von Lärm,
verwundet,
schwer verletzt,
unbeweglich,
schweigend,
in die Knie gegangen vor dem Abend,
vor dem Unausweichlichen,
die Adern haftend
am Grauen,
am Asphalt,
mit seinem gefallenen Scheitel,
mit seinen Heiligenaugen,
ganz, ganz nackt,
fast blau vor so viel Weiß.

Sie redeten von einem Pferd.
Ich glaube, es war ein Engel.

(Aparición urbana)

Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original wurde 1942 in dem Gedichtband Persuasión de los días veröffentlicht.

Der Dichter Oliverio Girondo (1891 Buenos Aires – 1967 ebenda) gehörte, wie die meisten seiner großen argentinischen Zeitgenossen, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts zum Kreis um die literarische Zeitschrift Martín Fierro – u.a. erschien dort sein surrealistisches Manifest – und blieb unter ihnen den Idealen der argentinischen Avantgarde am meisten treu. Seine Dichtung, die sich durch gewagte Tropen, seltsame Rhythmen, Sprachspielereien, Humor und Ironie auszeichnet, wurde als Abenteuer der Sprache beschrieben. Im Alltäglichen sah er eine bewundernswerte und bescheidene Manifestation des Absurden.

Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung

8.11.15

Spitzfindig

Der Weg
den du immer
gehst

ist
jedes Mal
ein neuer

– Iself (© 2015)

Ausgelöst von einem lyrischen Weinstück, das jemand anders über einen noch nie gegangenen Weg schrieb.

Wahrlich, so glaubet mir, es gibt keine noch nie gegangenen Wege. (Um es biblisch auszudrücken.)

20.6.15

Das Bolzen-Fibonacci

Bei
den
Nachbarn
läuft wieder
laute Musik, von
der hier selektiv ein dumpfes
Bolzen zu hören
ist. Zum Mit-
wummern
schön.
Seufz.

– Iself (© 2015)

Wieder mal die Wahrheit und nur die reine Wahrheit. Wenn schon Musik, dann doch lieber die eigene...

Das Silbenschema von Fibonacci-Gedichten: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 usw. Hier nach 8 wieder umgekehrt, so dass sich ein diamantförmiges Etwas ergibt.

20.1.15

Versuchte Übersetzung eines Gedichts von Charles Bernstein

Anmerkung des Übersetzers
Da dieses Gedicht, wie der aufmerksame Leser unschwer bemerken wird, stark verschlüsselt ist, bereitete seine Übertragung ins Deutsche große Schwierigkeiten. Daher kann diese Übertragung allerhöchstens als fragmentarisch gelten. Die Texte in eckigen Klammern sind nicht als Übersetzung, sondern als Anmerkung zu verstehen.
– Johannes Beilharz

6.5.14

Ode an die neue alte Innerlichkeit

Oh Innen!
Du bist so binnen,
so tiefest in mir drinnen!

Ich schau hinein und suche in der Datenbank,
doch alle Datensätze sind bloß blank.

Ihr Copyright verweist nach außen in die Außenwelt –
das ist es, was der Innerlichkeit missfällt.

Hatte sie doch nach Buddhas Gebot
dort drin das Nichts gesucht, und festgestellt: das Nichts ist tot.

– Felix Morgenstern (© 2014)

14.12.13

Frank O'Hara: Der spröde Augenblick kommt


Der spröde Augenblick kommt
wenn du die letzten paar Trauben an dich drückst
und die Wolken mit deprimierender
Genauigkeit langsamer werden.

Ein Junge lässt seine Murmeln fallen
und plötzlich fällt die Oberfläche des Schwimmbeckens
in lärmendes Gelächter zusammen
Wir sehen aus wie tote Blätter.

Frank O’Hara (1926-1966)

Geschrieben 1954, ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© der Übersetzung Johannes Beilharz 2013)

Original The Brittle Moment Comes in: Frank O’Hara, Poems Retrieved, Grey Fox Press, Bolinas, 1977.

13.9.13

Yannis Ritsos: Danke


Danke

Du hörtest deine Stimme sagen: Danke –
(so unerwartet, stumme Natürlichkeit) – jetzt war’s dir gewiss:
ein großes Stück Ewigkeit gehörte dir.

– Yannis Ritsos (1909-1990)

Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© 2013)

[Titel des griechischen Originals: Ευχαριστία. Aus: Ritsos in Parenthesis, Princeton University Press 1979]

3.9.13

Ein gutes Gedicht kann warten

Und ein schlechtes auch.

Ja, man könnte sogar sagen,
dass es gar nichts schadet,
wenn ein schlechtes Gedicht
sehr, sehr lange – vielleicht
sogar ewig – wartet.

Aber was ist schon gut
und was ist schlecht
in Sachen Gedichten!

Da gehen sowohl die lyrischen
als auch die unlyrischen
Meinungen gewaltig auseinander.

Manche sagen gar,
dass ohne Reim und Jamben
oder Gamben ein Gedicht
gar nichts war.

Ganz allgemein könnte man
jedoch sagen, dass sich
die meisten Gedichte
durch viel Warten auszeichnen –

viel Warten auf Publikum.


– Iself (© 2013)

Ausgelöst wurde dieses Gedicht – mit dem übrigens kein allzu zähes Ringen um Worte und Verse verbunden war – durch einen Artikel im Schwarzwälder Boten vom 1.9.2013 über die 4. Literaturtage Nordschwarzwald. Die Überschrift des Schwabo-Artikels beruht auf einem Zitat des an den Literaturtagen teilnehmenden Reiner Kunze. Im Zusammenhang des Artikels:
Nun ist moderne Lyrik bekanntlich keine Gattung, die man so im Vorbeigehen mal mitnimmt und schnell konsumiert. So wie sie dem Autor im Allgemeinen ein zähes Ringen um Worte und Verse abnötigt, stellt sie an das Lesepublikum erhöhte Anforderungen an seine Interpretationsfähigkeit. Da macht auch die Lyrik Kunzes keine Ausnahme. Sich dessen bewusst, ermunterte er die Gäste, ungeniert die Lesung von Texten ein zweites Mal einzufordern. Wenn sich dem Lesepublikum ein Werk nicht sofort erschließt, ist das jedenfalls unproblematisch, denn, so Kunze, "ein gutes Gedicht kann warten".

12.12.12

Richard Brautigan / Holz

Holz

Wir altern im Dunkeln wie Holz
und schauen zu, wie unsere Phantome ihre Kleider
aus Schindeln und Brettern wechseln –
für einen Zweck, der nur als Holz beschrieben werden kann.

Richard Brautigan (1935-1984)

Aus dem Amerikanischen übertragen von Johannes Beilharz (© 2012)

Weitere Gedichte von Richard Brautigan: Kritischer Dosenöffner

10.12.12

Richard Brautigan / Der alarmfarbene Schatten einer verschreckten Ameise

Der alarmfarbene Schatten einer verschreckten Ameise

Der alarmfarbene Schatten einer verschreckten Ameise will dein Freund sein, will alles wissen über deine Kindheit, will zusammen mit dir weinen, will bei dir einziehen und mit dir leben.

Richard Brautigan (1935-1984)

Aus dem Amerikanischen übertragen von Johannes Beilharz (© 2012)

Weitere Gedichte von Richard Brautigan: Kritischer Dosenöffner

5.12.12

Richard Brautigan / Restaurant


Restaurant

Zerbrechlich, verblassend, 37,
trägt ihren Ehering wie in Trance
und sieht vor sich hinab in eine leere Kaffeetasse,
als blicke sie in den Schlund eines toten Vogels.
Das Abendessen ist vorbei. Ihr Mann ist auf der Toilette.
Er wird bald zurückkommen, und dann ist sie dran
mit dem Gang zur Toilette.

Richard Brautigan (1935-1984)

Aus dem Amerikanischen übertragen von Johannes Beilharz (© 2012)

13.9.12

14.7.12

"Dieser Ozean, beschämend in seinen Verkleidungen"

Dieser Ozean, beschämend in seinen Verkleidungen
Härter als alles andere.
Niemand hört Gedichte. Dem Ozean
Soll nicht zugehört werden. Ein Tropfen
Oder Brechen von Wasser. Es bedeutet
Nichts.
Es
Ist Brot und Butter
Pfeffer und Salz. Der Tod
Auf den junge Männer hoffen. Ziellos
Schlägt er ans Ufer. Weiße und ziellose Signale. Nie-
Mand hört Gedichte.

– Jack Spicer

(1964)

Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz. Copyright © der Übersetzung Johannes Beilharz 2012.

Das englische Original ist hier zu lesen.

Jack Spicer (1925-1965) stand der Gruppe der San Francisco Renaissance nahe.

18.5.12

Freitag, vor Feierabend

Vor den Fenstern das Konzert
für einen Blattbläser, zwei Sägen
und drei Motoren von F.A. Stihl
in Kreisch-dur.

– Iself (© 2012)

Nachbemerkungen

Präzise und zeitnahe poetische Aufzeichnung der mich gestern umgebenden Realität.

Ursprünglich hatte ich als Tonart Kreisch-moll genannt, doch hat – jeder wird mir beistimmen – der Lärm von Mororsägen einfach nicht das Traurige, das man generell mit moll assoziiert.

17.5.12

Gestern gekauft

rote und grüne Tafeläpfel,
geeignet für schwarze,
weiße, gelbe und rote
Tafelbesitzer

Sie haben die richtige Form
entsprechend der richtigen Norm

Hurra!

– Iself (© 2012)

PS: Was gibt’s eigentlich außer Tafeläpfeln noch für Äpfel? Mostäpfel, Falläpfel? Im Großen und Ganzen scheint der Zusatz “Tafel” eher überflüssig, da man die Äpfel ja wohl auch mitnehmen und irgendwo anders essen darf als am Tisch.
Wie auch der Zusatz “Land” beim Landschwein überflüssig ist. (Oder gibt es tatsächlich heutzutage Stadtschweine?)
Oder der Zusatz “Land” beim Ei. Außer es handelt sich um ein menschliches Landei.

5.5.12

Sekundäres Haiku

So viele blitzar-
tige Erkenntnisse wie
in Haiku gibt’s nicht.

– Iself (© 2012)

1.4.12

Octavio Paz: Lose Steine

Erklärung einiger Dinge

1. Belebung

Auf dem Bücherregal –
zwischen einem musikalischen Tang und einem Krug aus Oaxaca –,
glühend und lebhaft,
mit funkelnden Augen aus Silberpapier,
sieht er uns kommen und gehen,
der kleine Totenkopf aus Zucker.

2. Maske des Tláloc, in durchscheinenden Quarz geschnitten

Versteinerte Wasser.
Der alte Tláloc schläft darin
und träumt von Ungewittern.

3. Derselbe

Vom Licht berührt,
ist der Quarz schon Wasserfall.
Auf seinen Wassern treibt der Kindgott dahin.

4. Gott, einer tönernen Orchidee entsteigend

Den Blütenblättern aus Ton
entsprießt mit einem Lächeln
die menschliche Blume.

5. Olmekische Göttin

Die vier Himmelsrichtungen
kehren zu deinem Nabel zurück.
In deinem Bauch schlägt der bewehrte Tag.

6. Kalender

Gegen das Wasser Tage aus Feuer.
Gegen das Feuer Tage aus Wasser.

7. Xochipilli

Im Baum des Tages
hängen in der Nacht
Jadefrüchte, Feuer und Blut.

8. Kreuz, Sonne und Mond aufgemalt

Zwischen den Balken dieses Kreuzes
nisteten zwei Vögel:
Adam, die Sonne, und Eva, der Mond.

9. Kind und Kreisel

Jeder Wurf
landet genau
im Mittelpunkt der Welt.

10. Gegenstände

Sie leben an unserer Seite,
wir ignorieren sie, sie ignorieren uns.
Dann und wann reden sie mit uns.

– Octavio Paz

Übertragung des Gedichts Lección de Cosas, Bestandteil von Piedras Sueltas (1955) zu Ehren von Octavio Paz, der am 31.3.2012 seinen 98. Geburtstag gehabt hätte.

Als Vorlage diente der Abdruck des Gedichts in Libertad bajo Palabra, Obra Poética (1935-1957), Mexico City: Fondo de Cultura Económica 1960.

Copyright © der Übersetzung Johannes Beilharz 2012.

Nachbemerkung
Die obige Übersetzung ist völlig neu und wurde ohne Berücksichtigung der deutschen Fassung dieses Gedichts in dem Band Octavio Paz / Gedichte (Bibliothek Suhrkamp 551, 1977) angefertigt. Diese ältere Übersetzung von Fritz Vogelgsang muss auf einer anderen Vorlage basieren, da sie um etwa die Hälfte kürzer ist und auch nicht nummeriert ist wie der mir vorliegende spanische Text.

14.3.12

Das Nasobem


Auf seinen Nasen schreitet
einher das Nasobem,
von seinem Kind begleitet.
Es steht noch nicht im Brehm.

Es steht noch nicht im Meyer.
Und auch im Brockhaus nicht.
Es trat aus meiner Leyer
zum ersten Mal ans Licht.

Auf seinen Nasen schreitet
(wie schon gesagt) seitdem,
von seinem Kind begleitet,
einher das Nasobem.

Christian Morgenstern (1871-1914)

The Nosobeme (englische Übertragung).

Gedichte und sonstige Werke von Christian Morgenstern sind in zahlreichen Ausgaben im Buchhandel und Online-Buchhandel, z.B. Amazon, erhältlich.

6.3.12

Nacht

Oh letz –
jetzt ist alles aus

Die Lichter sind aus
es ist das Weltenende

Du sagst zünd eine Kerze an
und wag dich aus dem Bett

Wir haben keine Streichhölzer
sag ich

in dieser Nacht
Oh letz

die scheint
wie das Weltenende

– Johannes Beilharz (© 2012)

Ein unscheinbarer Versuch, etwas zum Thema Nacht zu schreiben, das noch nicht geschrieben wurde, und das die richtige Waage hält zwischen unpathetisch und dem natürlichen Pathos des Titels. Etwas beeinflussen lassen habe ich mich dabei vom Stile Vicente Huidobros.

Erklärung zu "Oh letz" - ist abgeleitet von dem aus der Mode gekommenen Ausspruch "Jetzt ist alles letz".