1.4.12

Octavio Paz: Lose Steine

Erklärung einiger Dinge

1. Belebung

Auf dem Bücherregal –
zwischen einem musikalischen Tang und einem Krug aus Oaxaca –,
glühend und lebhaft,
mit funkelnden Augen aus Silberpapier,
sieht er uns kommen und gehen,
der kleine Totenkopf aus Zucker.

2. Maske des Tláloc, in durchscheinenden Quarz geschnitten

Versteinerte Wasser.
Der alte Tláloc schläft darin
und träumt von Ungewittern.

3. Derselbe

Vom Licht berührt,
ist der Quarz schon Wasserfall.
Auf seinen Wassern treibt der Kindgott dahin.

4. Gott, einer tönernen Orchidee entsteigend

Den Blütenblättern aus Ton
entsprießt mit einem Lächeln
die menschliche Blume.

5. Olmekische Göttin

Die vier Himmelsrichtungen
kehren zu deinem Nabel zurück.
In deinem Bauch schlägt der bewehrte Tag.

6. Kalender

Gegen das Wasser Tage aus Feuer.
Gegen das Feuer Tage aus Wasser.

7. Xochipilli

Im Baum des Tages
hängen in der Nacht
Jadefrüchte, Feuer und Blut.

8. Kreuz, Sonne und Mond aufgemalt

Zwischen den Balken dieses Kreuzes
nisteten zwei Vögel:
Adam, die Sonne, und Eva, der Mond.

9. Kind und Kreisel

Jeder Wurf
landet genau
im Mittelpunkt der Welt.

10. Gegenstände

Sie leben an unserer Seite,
wir ignorieren sie, sie ignorieren uns.
Dann und wann reden sie mit uns.

– Octavio Paz

Übertragung des Gedichts Lección de Cosas, Bestandteil von Piedras Sueltas (1955) zu Ehren von Octavio Paz, der am 31.3.2012 seinen 98. Geburtstag gehabt hätte.

Als Vorlage diente der Abdruck des Gedichts in Libertad bajo Palabra, Obra Poética (1935-1957), Mexico City: Fondo de Cultura Económica 1960.

Copyright © der Übersetzung Johannes Beilharz 2012.

Nachbemerkung
Die obige Übersetzung ist völlig neu und wurde ohne Berücksichtigung der deutschen Fassung dieses Gedichts in dem Band Octavio Paz / Gedichte (Bibliothek Suhrkamp 551, 1977) angefertigt. Diese ältere Übersetzung von Fritz Vogelgsang muss auf einer anderen Vorlage basieren, da sie um etwa die Hälfte kürzer ist und auch nicht nummeriert ist wie der mir vorliegende spanische Text.

30.3.12

Der blinde Gott

Ein Vermerk

Ein gewisser (und daher eher ungewisser) Jessiersky, ehemaliger Bordellbesitzer und nun arriviert, will einen Hundezuchtverein gründen, für den er bereits einen Namen hat: "Der blinde Gott". Ob das der Bezirksvorsteher so akzeptieren wird, ist fraglich. Jedenfalls ist er momentan in Urlaub, in Malaysia, soweit ich weiß, so dass die Sache mit Sicherheit noch eine Weile Aufschub hat. Im Bedarfsfalle muss dringend entsprechend reagiert werden.

Gez. Untermeyer

– Johannes Beilharz (© 2012)

Anmerkung
Diese Winzigkeit treibt ihr Spiel mit Franz Kafka (Auslöser waren mehrere Wikipedia-Artikel über Kurzgeschichten von F. K., z.B. der über Blumfeld, ein älterer Junggeselle) und Alexander Lernet-Holenia. So gibt es bei L.-H. in einem Roman einen Herrn Jessiersky, und "Der blinde Gott" ist eine Erzählung von L.-H. über einen Hund und seinen Herrn. Der Bogen zwischen Kafka und Lernet-Holenia spannt sich durch den Gebrauch einer bestimmten Art von Deutsch, das man fast als Beamtendeutsch bezeichnen könnte. Deshalb auch der Beamtentonus der obigen Geschichte und ihre Vorgabe, ein "Vermerk" zu sein, unterzeichnet von einem Unterteufel namens Untermeyer.

14.3.12

Das Nasobem


Auf seinen Nasen schreitet
einher das Nasobem,
von seinem Kind begleitet.
Es steht noch nicht im Brehm.

Es steht noch nicht im Meyer.
Und auch im Brockhaus nicht.
Es trat aus meiner Leyer
zum ersten Mal ans Licht.

Auf seinen Nasen schreitet
(wie schon gesagt) seitdem,
von seinem Kind begleitet,
einher das Nasobem.

Christian Morgenstern (1871-1914)

The Nosobeme (englische Übertragung).

Gedichte und sonstige Werke von Christian Morgenstern sind in zahlreichen Ausgaben im Buchhandel und Online-Buchhandel, z.B. Amazon, erhältlich.

13.3.12

The Nosobeme


The nosobeme prances
on its quadruple nose.
Accompanying it dances
its child, also on four of those.

In Britannica it has no mention,
nor does it in Wikipedia.
It sprang from the invention
of my own private cyclopedia.

And thus the nosobeme does prance,
with child, as said before,
both doing their special dance
on noses galore.

– Felix Morgenstern (© 2012)

A rather free (and Internet-age) translation of Christian Morgenstern's poem Das Nasobem.

8.3.12

Animal witticism

So I say to my dog "sit!"
and he won't do it
but yawns

And I tell him
"So you think you've got wit?
But really

the only part of it
that you've got
is the nit."

– Felix Morgenstern (© 2012)

A much belated entry to Sunday Scribblings for wit.

6.3.12

Nacht

Oh letz –
jetzt ist alles aus

Die Lichter sind aus
es ist das Weltenende

Du sagst zünd eine Kerze an
und wag dich aus dem Bett

Wir haben keine Streichhölzer
sag ich

in dieser Nacht
Oh letz

die scheint
wie das Weltenende

– Johannes Beilharz (© 2012)

Ein unscheinbarer Versuch, etwas zum Thema Nacht zu schreiben, das noch nicht geschrieben wurde, und das die richtige Waage hält zwischen unpathetisch und dem natürlichen Pathos des Titels. Etwas beeinflussen lassen habe ich mich dabei vom Stile Vicente Huidobros.

Erklärung zu "Oh letz" - ist abgeleitet von dem aus der Mode gekommenen Ausspruch "Jetzt ist alles letz".

31.1.12

Alles was der heutige Mensch so braucht auf einen Blick

Ist man stolzes und zahlendes Mitglied der T-Online-Gemeinde und nutzt die Webmail-Funktion, wird man vor allem nach der Abmeldung mit allem versorgt, was der Mensch heutzutage so braucht: mit den wesentlichen weltbewegenden Nachrichten (zum Beispiel den neuesten Meldungen zu Dschungel-TV und Yogurette, der fiesen Kalorienbombe) und natürlich mit viel, viel Werbung.

Denn sonst wüsste man ja nicht, wo man seine Millionen oder hart verdienten Euros in den Sand setzen soll.

So schön kann Webmail sein:


Und nicht vergessen: An neue Fenster denken!
Das ist mein Plan.
Kann beim angekündigten sibirischen Wetter kaum schaden.

9.1.12

Pleitegeier und Bundesadler

Zu den Kleinen kommt der Pleitegeier, zu den Großen kommt der Bundesadler.
– Guido Westerwelle

8.1.12

Jacques Prévert: Roboterliebe

Roboterliebe

    Ein Mann schreibt auf der Schreibmaschine einen Liebesbrief und die Maschine antwortet dem Mann an Stelle der Empfängerin und ihrer Hand
    Sie ist dermaßen perfekt diese Maschine diese Maschine zum Waschen von Schecks und Liebesbriefen
    Und der Mann, bequem in seiner Wohnmaschine sitzend, liest mit der Lesemaschine die Antwort der Schreibmaschine
    Und in seiner Träumemaschine kauft er mit seiner Rechenmaschine eine Liebesmaschine
    Und in seiner Traumverwirklichungsmaschine liebt er die Schreibmaschine die Liebesmaschine
    Und die Maschine betrügt ihn mit einem Maschin*
    Einem Maschin zum Totlachen

– Jacques Prévert

Ins Deutsche gebracht von Johannes Beilharz.

Das französische Original, L'Amour à la Robote, ist in dem Band La Pluie et le Beau Temps (1955) enthalten.

*Frz. machin (Dings, Dingsbums), mit dem Wort machine in der Schreibung fast identisch, könnte auch als männliche Entsprechung der weiblichen Maschine interpretiert werden. Es schien mir nach Rücksprache mit französischen Freunden richtig, hier im Deutschen eine männlichen Entsprechung zu erfinden, den Maschin, da dies einer der möglichen Bedeutungen dieser Wortspielerei am Französischen wohl am ehesten entspricht.

21.12.11

Yuppie am Handy, Mittwochmorgen, ca. 9 Uhr

Der Mann im Gang
geht auf und ab.
Eine Kostenstelle
hält ihn auf Trab.
Ohne meine neugierigen Ohren
wäre er ganz sicher
vollkommen verloren.

– Felix Morgenstern (© 2011)

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, beruhend auf messerscharfer poetischer Beobachtung.

19.12.11

Ode to the owner of an inkpot

Thank you, my love,
I forgive you not –
you gave me ink
in that old pot.
But on a cold day like this
it won’t make me hot.

– Felix Morgenstern (© 2011)

A demonstratively silly ditty upon instigation by One Single Impression.

4.12.11

Friedrich Nietzsche: Der Herbst

Dies ist der Herbst: der – bricht Dir noch das Herz!
Fliege fort! Fliege fort! –
Die Sonne schleicht zum Berg
und steigt und steigt
und ruht bei jedem Schritt.

Was ward die Welt so welk!
Auf müd gespannten Fäden spielt
der Wind sein Lied.
Die Hoffnung floh –
er klagt ihr nach.

Dies ist der Herbst: der – bricht Dir noch das Herz!
Fliege fort! Fliege fort! –
O Frucht des Baums,
du zitterst, fällst?
Welch ein Geheimnis lehrte dich die Nacht,
dass eisger Schauder deine Wange,
die Purpurwange deckt? –

Du schweigst, antwortest nicht?
Wer redet noch? – –
Dies ist der Herbst: der – bricht Dir noch das Herz!
Fliege fort! Fliege fort! –
“Ich bin nicht schön”
– so spricht die Sternenblume –
“doch Menschen lieb ich
und Menschen tröst ich –
sie sollen jetzt noch Blumen sehn,
nach mir sich bücken,
ach! und mich brechen –
in ihren Augen glänzet dann
Erinnrung auf,
Erinnerung an Schöneres als ich: –
ich sehs, ich sehs – und sterbe so!” –

Dies ist der Herbst: der – bricht Dir noch das Herz!
Fliege fort! Fliege fort! –

Dies ist der Herbst: der – bricht Dir noch das Herz!
Fliege fort! Fliege fort! –

– Friedrich Nietzsche

Entnommen der Anthologie Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik, gesammelt von Will Vesper, Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München 1906. Dieses Gedicht entstammt Nietzsches Buch Gedichte und Sprüche.

20.11.11

An autumn poem by Max Dauthendey


The ravens scream their wounded cry;
of night and need they prophecy.
Frost has surrounded every door;
hunger’s dog barks out there for more.
We hold each other ever more tightly;
for sake of kissing we’ve spoken only lightly.
The larks have sung themselves to death,
and clouds have shooed summer with their breath.
Your head, cradled here in my arm,
no longer knows this earth ... without alarm.

– Max Dauthendey (1867-1918)

Translated from German by Johannes Beilharz.
English translation © by Johannes Beilharz 2011.
The German original of 1905 is here.

19.11.11

Herbstliches von Max Dauthendey

Die Raben schreien wie verwundet
und prophezeien Nacht und Not.
Der Frost hat jede Tür umstellt
und der Hungerhund bellt.
Wir halten uns immer enger umschlungen,
im Küssen fanden wir noch kein Wort,
die Lerchen haben sich tot gesungen
und Wolken wälzten den Sommer fort.
Doch Dein Haupt, das in meinem Arm sich wiegt,
weiß nicht mehr, wo die Erde liegt.

– Max Dauthendey (1867-1918)

Entnommen der Anthologie Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik, gesammelt von Will Vesper, Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München 1906. Dieses Gedicht entstammt dem Band Die ewige Hochzeit von 1905, war also zur Zeit der Herausgabe der Anthologie erst seit einem Jahr veröffentlicht.

Biografisches

22.10.11

In my backyard

In my backyard
I found a tart.

Says Jay, “Pray tell,
you might as well,

what will you do with it?”
“Whip cream, you nit,

put it on top
and eat the slop.”

– Felix Morgenstern (© 2011)

Written for Sunday Scribblings and My Backyard, this should easily compete with the silliest of Mother Goose.