10.9.20

Polemic short ode to Rome

 


September 2020

The pines – 
essential, 
beautiful to look at,
peaceful,
friendly – 
are dying,

while the dogs – 
loud,
aggressive and
full of shit
(they usually leave behind everywhere) – 
are thriving

– Iself (© 2020)

Notes
Apparently, there is a pest that is killing off the pines of Rome at an alarming rate. The photo was taken at Rome's Protestant Cemetery, an oasis of peace where dogs are not allowed, thank God.

Part of a volume called Disgruntled Poetics to be released in the near future.

25.8.20

Contemporary wisecracks

Anyone who's ever pouted in front of something on Instagram feels entitled to a career in modeling.

– Iself (© 2020)

Note

So, if you are model material (and even if you're not), start snapping pout selfies in front of structures everyone loves and post them on Instagram. If they have done it, you can do it, too!


22.7.20

Das Putzig-Haiku

“Heute habe ich mir
das Zitronengrüne an-
gezogen. Blumig!”

– Iself (© 2020)

Anmerkung
In der Kunst gibt es eine Richtung, die Eines behauptet und etwas Anderes zeigt. Bekanntestes Beispiel dafür ist vielleicht das Bild “Ceci n'est pas une pipe” von René Magritte, das eine Pfeife zeigt und behauptet, das wäre keine Pfeife. Was dieses Gedicht anbelangt, so wurde es inspiriert von einem Kunstprodukt dieser Art, das eine Frau zeigt, die eine Zitrone vors linke Auge hält und ein Kleid mit einem großblumigen Muster trägt. Darunter hat jemand den Kommentar “Aujourd'hui j'ai mis ma robe citron” hinzugefügt.

21.6.20

Paul Zech – Die Häuser haben Augen aufgetan...



Die Häuser haben Augen aufgetan...

Am Abend stehn die Dinge nicht mehr blind
und mauerhart in dem Vorüberspülen
gehetzter Stunden; Wind bringt von den Mühlen
gekühlten Tau und geisterhaftes Blau.

Die Häuser haben Augen aufgetan,
Stern unter Sternen ist die Erde wieder,
die Brücken tauchen in das Flußbett nieder
und schwimmen in der Tiefe Kahn an Kahn.

Gestalten wachsen groß aus jedem Strauch,
die Wipfel wehen fort wie träger Rauch
und Täler werfen Berge ab, die lange drückten.

Die Menschen aber staunen mit entrückten
Gesichtern in der Sterne Silberschwall
und sind wie Früchte reif und süß zum Fall.

Paul Zech (1881-1946)

Zitiert aus Menschheitsdämmerung - ein Dokument des Expressionismus, herausgegeben von Kurth Pinthus (1920)

17.6.20

365 Days – 2020 movie



This Polish slapdash gem of a movie feels like the implementation of an instruction manual called “How to dress, eat, drink, fuck, think (if you ever do) and act like rich, unscrupulous, criminal, self-serving, attractive and perverted shits that nobody should give a damn about” – and in that it quite resembles Fifty Shades of Grey. In fact, it’s likely that this is a case of calculated copy-catting based on the motto that the millions of flies who were attracted by that one can’t be wrong.

And apparently it is doing very much all right at the box office and on Netflix. A friend told me this had gone viral and was a must watch

Oh well, it struck me as someone’s synthetic attempt to create the kind of virtual reality you get by putting on a VR helmet to play some crude video game. Except that the actors are real (or are they?) and you can’t influence the plot no matter how much you’d like to end it prematurely.

Now that I’ve vented some anger about wasting about 25 minutes watching part of 365 Days, please feel free to abstain or see for yourself. Why, you might even like it! Long live diversity.

15.6.20

Allen Ginsberg – An Lindsay



An Lindsay

Vachel, die Sterne sind rausgekommen
Dämmerung liegt auf der Straße in Colorado
ein Auto kriecht langsam über die Ebene
im gedämpften Licht plärrt Jazz aus dem Radio
der Verkäufer mit gebrochenem Herzen zündet sich eine weitere Zigarette an
In einer anderen Stadt vor 27 Jahren
sehe ich deinen Schatten an der Wand
du sitzt in Hosenträgern auf dem Bett
die Schattenhand hält dir eine Pistole an den Kopf
dein Schatten fällt um und zu Boden

Paris 1958

– Allen Ginsberg

Das Original To Lindsay stammt aus Kaddish and Other Poems 1958-1960, erschienen 1961 bei City Lights Books in San Francisco. Übertragen aus dem amerikanischen Englisch von Johannes Beilharz. Das Gedicht bezieht sich auf Vachel Lindsay (1873-1931), einen zu Lebzeiten recht bekannten amerikanischen Dichter.

12.6.20

Ernst Stadler – In the early morning



In the early morning

The silhouette of your body is dark in the morning in front of the dim light
Of the curtained blinds. Lying in bed, I feel your face turned towards me host-like.
When you unwound yourself from my arms, your whispered “I must go” only reached the farthest gates of my dream –
Now I see, as if through a veil, your hand, as it lightly brushes the white shirt down your breasts ...
The stockings ... now the skirt ... Your hair gathered ... you’ve become a stranger, adorned for the day and the world ...
I open the door quietly ... kiss you ... you nod, distant already, a farewell ... and you are gone.
I hear, already in bed again, your gentle steps fade away in the staircase,
I am again captive of your body’s scent, which flows out of the pillows warmly and into my senses.
The morning is getting brighter. The curtain billows. Young wind and first sun want to enter.
Noise rises ... Early morning music ... sung gently into morning dreams, I fall asleep.

– Ernst Stadler (1883-1914)

From: Der Aufbruch, 1914, published shortly before the author died in World War I. Translated by Johannes Beilharz. The German original can be found here.

Ernst Stadler – In der Frühe


In der Frühe

Die Silhouette deines Leibs steht in der Frühe dunkel vor dem trüben Licht
Der zugehangnen Jalousien. Ich fühl, im Bette liegend, hostiengleich mir zugewendet dein Gesicht.
Da du aus meinen Armen dich gelöst, hat dein geflüstert »Ich muß fort« nur an die fernsten Tore meines Traums gereicht –
Nun seh ich, wie durch Schleier, deine Hand, wie sie mit leichtem Griff das weiße Hemd die Brüste niederstreicht ...
Die Strümpfe ... nun den Rock ... Das Haar gerafft ... schon bist du fremd, für Tag und Welt geschmückt ...
Ich öffne leis die Türe ... küsse dich ... du nickst, schon fern, ein Lebewohl ... und bist entrückt.
Ich höre, schon im Bette wieder, wie dein sachter Schritt im Treppenhaus verklingt,
Bin wieder im Geruche deines Körpers eingesperrt, der aus den Kissen strömend warm in meine Sinne dringt.
Morgen wird heller. Vorhang bläht sich. Junger Wind und erste Sonne will herein.
Lärmen quillt auf ... Musik der Frühe ... sanft in Morgenträume eingesungen schlaf ich ein.

– Ernst Stadler (1883-1914)

Quelle: Ernst Stadler, Der Aufbruch (1914)

Selbst heute noch oder wieder ist das schmale Werk von Ernst Stadler im Buchhandel erhältlich, z. B. bei Amazon.

10.6.20

Tel Aviv On Fire



Spielfilm von Sameh Zoabi (Israel, 2018) mit Kais Nashef (Salam), Lubna Azabal (Tala), Yaniv Biton (Assi) und Maisa Abd Elhadi (Mariam) in den Hauptrollen.

Israel/Palästina, Gegenwart. Salam, ein charmanter 30-jähriger Palästinenser, der in Jerusalem lebt, arbeitet als Praktikant an der beliebten palästinensischen Seifenoper Tel Aviv On Fire, die zur Zeit des Sechstagekrieges (1967) spielt und in Ramallah produziert wird. Um das Studio zu erreichen, muss Salam jeden Tag einen israelischen Kontrollpunkt passieren. Dort macht er die Bekanntschaft des Kommandanten des Kontrollpunktes, Assi, dessen Frau ein großer Fan der Seifenoper ist. Assi übt Druck auf Salam aus, damit dieser das Ende der Sendung ändert und Israel-freundlicher macht. Salam seinerseits profitiert von Assis Ideen und steigt durch sie zum Drehbuchautor auf. Seine kreative Karriere nimmt einen steilen Aufstieg. Allerdings haben der israelische Armee-Oberst Assi und die palästinensischen Produzenten und Finanziers der Seifenoper völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie enden soll. Salam sitzt zwischen den Stühlen, löst das Dilemma aber letztendlich mit einem überraschenden Coup, der das Fortbestehen der Seifenoper sichert. Eine gelungene und außergewöhnliche Komödie mit ernsthaftem Hintergrund.

Erhältlich bzw. anzusehen u.a. bei Amazon.

5.6.20

René Schickele – The boy in the garden


The boy in the garden

I want to put my bare hands together
and make them sink hard
as evening falls, as if they were lovers.
May bells ring at dusk,
and white veils of scent descend upon us,
as we are close together, listening to our flowers.
Tulips shine through the last glow of the day,
lilac blossoms spring from the bushes,
a bright rose melts on the ground...
We're all fond of each other.
Outside, through the blue night, we hear the muted striking of the hours.

– René Schickele (1883-1940)

English translation by Johannes Beilharz (© 2020).

German original | Other poems by René Schickele in English

René Schickele – Der Knabe im Garten


Der Knabe im Garten

Ich will meine bloßen Hände aneinander legen
und sie schwer versinken lassen,
da es Abend wird, als wären sie Geliebte.
Maiglocken läuten in der Dämmerung,
und weiße Düfteschleier senken sich auf uns,
die wir eng beieinander unsern Blumen lauschen.
Durch den letzten Glanz des Tages leuchten Tulpen,
die Syringen quellen aus den Büschen,
eine helle Rose schmilzt am Boden...
Wir alle sind einander gut.
Draußen durch die blaue Nacht hören wir gedämpft die Stunden schlagen.

René Schickele (1883-1940)

Aus: Menschheitsdämmerung, ein Dokument des Expressionismus, neu herausgegeben von Kurt Pinthus (1959), erstmals erschienen 1920.

Erstaunlicherweise sind im Buchhandel zur Zeit etliche Werke Schickeles erhältlich, z.B. über Amazon.

3.6.20

Robert Creeley – Kiki


Kiki

World in a
plastic octa-
gon from a
most perspica-
cious daughter.

❍❖❍❖❍❖❍❖

Kiki

Welt in einem
Plastikokta-
gon von einer
höchst scharf-
sinnigen Tochter.

– Robert Creeley

Aus: Robert Creeley, A Day Book, 1972. Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz.

1.6.20

Luis Cuauhtémoc Berriozábal – Der Leichnam von César Vallejo

Der Leichnam von César Vallejo

Wenn ich gehen könnte,
würde ich langsam damit anfangen.
Ich würde diesen meinen Leichnam reinigen
und dann die Straßen von Paris durchstreifen.

Das Sterben ist schwer.
Ich möchte meinen Bruder sehen.
und die Leute, die ich liebe.

Es ist traurig, eine Leiche zu sein,
wenn es so viel Liebe im Leben gibt.
Der Tod ist eine traurige Sache.

Ich kenne das Sterben.
Ich will meinen Tod nicht noch einmal 
vorhersagen. Es ist schwer.

Dieser Leichnam ist zerbrechlich.
Ich muss von hier verschwinden.
Ich war schon immer ein Kämpfer.
Die Schlacht kann nicht vorbei sein.

– Luis Cuauhtémoc Berriozábal (2018)

Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz (© 2020) mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Shine / Schein – ein weiteres Gedicht des Autors.

31.5.20

Summer of 1976 – house and cat sitting


In the summer of 1976, my parents went on vacation and left me at home to house sit and cat sit. I also had lots of time to write on the Triumph Gabriele. I'd sit on the sofa and type, and the cat would jump up and sleep behind me. Occasionally I'd also grab my father's Leica M3 and take pictures.

Im Sommer 1976 machten meine Eltern Ferien und überließen mir Haus und Katze. Ich hatte viel Zeit zum Schreiben auf der Triumph Gabriele. Ich setzte mich zum Tippen auf das Sofa. Oft sprang die Katze hoch und machte hinter meinem Rücken ein Nickerchen. Manchmal griff ich mir die Leica M3 meines Vaters und machte Fotos.

30.5.20

Franz Kafka – Cool and Hard


Cool and hard is the day today.
The clouds congeal.
The winds are tugging ropes.
People congeal.
The steps sound metallic
On ore stones,
And the eyes see
Wide white lakes.

In the old little town there are
Small bright Christmas houses,
Their colorful windows look out
Over the snow-blown square.
On the moonlit square
A man walks silently in the snow,
His great shadow blown up
The houses by the wind.

People who walk across dark bridges,
Past saints
With dim candles.

Clouds that drift across a grey sky
Past churches
With towers in twilight.
A man leans against the ashlar parapet
And looks into the evening water,
Hands on old stones.

– Franz Kafka, translated from the German by Johannes Beilharz (© 2020)

(A poem by Franz Kafka (1883-1924) – who is, of course, not really known for poetry – which undoubtedly places him in the literary environment of expressionism. It is contained in a letter by Kafka dated November 9, 1903, in which the 20-year-old writes to his schoolmate Oskar Pollak about “some verses” that he might “read at a good hour”.)