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10.4.08

Regenreicher April ... mit Klabund

Als Begleitung und Ausgleich zu diesen regnerischen Apriltagen passt dieses wunderbar leicht gesponnene Gedicht von Klabund ganz hervorragend:

Regen

Der Regen rinnt schon tausend Jahr,
Die Häuser sind voll Wasserspinnen,
Seekrebse nisten mir im Haar
Und Austern auf des Domes Zinnen.

Der Pfaff hier wurde eine Qualle,
Seepferdchen meine Nachbarin.
Der blonde Seestern streckt mir alle
Fünfhundert Fühler zärtlich hin.

Es ist so dunkel, kalt und feucht.
Das Wasser hat uns schon begraben.
Gib deinen warmen Mund - mich deucht,
Nichts bleibt uns als uns lieb zu haben.

– Klabund (1890-1928)

Verschiedene, gesammelte und auch sämtliche Werke von Klabund sind im Buchhandel oder Online-Buchhandel, z.B. Amazon, erhältlich.

6.4.08

Heinrich von Morungen (um 1200)

Vielsüße sanfte Töterin,
warum wollt Ihr töten mir den Leib,
wo ich Euch doch so herzlich liebe,
fürwahr, Herrin, über alle anderen Frauen?
Wähnet Ihr ..., wenn Ihr mich tötet,
dass ich Euch dann nimmer mehr anschaue?
Nein, Eure Liebe hat mich dazu genötigt,
dass Eure Seele meiner Seele Herrin ist.
Soll mir hier nichts Gutes geschehen
von Eurem werten Leibe,
so muss Euch meine Seele eingestehen,
dass sie Eurer Seele dienet dort als einem reinen Weibe.

Ins Neudeutsche gebracht von Johannes Beilharz, der dazu schreibt:
Dieses Gedicht schwirrte mir neulich per Lyrikmail ins Haus, und zwar im Original und einer modernen deutschen Fassung, die zwar den Inhalt wiedergab, mir aber weder sprachlich noch emotional adäquat schien. So dass ich mich gedrängt fühlte, mich an einer eigenen Version zu versuchen – und dabei möglichst nahe am Original und gleichzeitig verständlich zu bleiben.
Vil süeziu senftiu tôterinne,
warumbe welt ir tôten mir den lîp,
und ich iuch sô herzeclîchen minne,
zewâre, frouwe, gar für elliu wîp?
Wênet ir ... ob ir mich tôtet,
daz ich iuch danne niemer mê beschouwe?
Nein, iuwer minne hât mich des ernôtet
Daz iuwer sêle ist mîner sêle frouwe.
Sol mir hie niht guot geschên
Von iuwerm werden lîbe,
sô muoz mîn sêle iu des verjên
daz si iuwerer sêle dienet dort als einem reinen wîbe.

Über Heinrich von Morungen, einen der großen Lyriker des hohen Mittelalters, ist nur bekannt, dass er um 1200 lebte und möglicherweise aus einer thüringischen Familie des niederen Adels stammte.

1.4.08

Christian Wagner | Rosenlandschaft

Du

Da du getreten in mein Leben ein,
Da wich die Nacht dem hellen Morgenschein;
Weit offen stand des Himmels festlich Tor,
Und eine Rosenlandschaft stieg empor

Christian Wagner (1835-1918)

Von Christian Wagner sind im Buchhandel erfreulicherweise etliche Bücher erhältlich. Auch online, z.B. bei Amazon.

15.3.08

Die Ballade vom Fliegenpilz

Ein Fliegenpilz
gedankenversunken im Walde stand.
“Ich will’s”,
dacht’ er für sich im Sand,

und meinte damit
auf Flügeln das Fliegen.
Ein dienstbarer Geist der hörte mit
und wollte ihm obliegen.

Von Tälern und Hügeln
kamen sie ihm zugeflogen
zuhauf auf ihren Flügeln.
Ganz ungelogen:

Schon mancher, dem das Glück gelacht,
wurde anders beschenkt als er gedacht.

– Felix Morgenstern (© 2008)

4.3.08

Peter Hille: Abbild

Abbild

Seele meines Weibes, wie zartes Silber bist du,
Zwei flinke Fittiche weißer Möwen
Deine beiden Füße,
Und dir im lieben Blut auf
Steigt ein blauer Hauch,
Und sind die Dinge darin
Alle ein Wunder.

– Peter Hille (1854-1904)

Von und über Peter Hille sind im Buchhandel und Online-Buchhandel, z.B. Amazon, etliche Werke erhältlich.

28.2.08

Ringelnatz telefoniert


Telefonischer Ferngruß

Ich grüße dich durchs Telefon,
Guten Morgen, du Gutes!
Ich sauge deiner Stimme Ton
In die Wurzeln meines Mutes.

Ich küsse dich durch den langen Draht.
Du Meinziges, du Liebes!
Was ich dir - nahe - je Böses tat,
Aus der Ferne bitt ich: Vergib es!

Bist du gesund? - Gut? - Was? - Wieviel? -
Nimm's leicht! - Vertraue! - Und bleibe
Mir mein. - - Wir müssen dies Wellenspiel
Abbrechen - - Nein "dir" Dank! - - Ich schreibe!

– Joachim Ringelnatz (1883-1934)

Die Gedichte und anderen Schriften von Ringelnatz sind im Buchhandel und Online-Buchhandel, z.B. Amazon, in zahlreichen Ausgaben erhältlich.

20.2.08

Ein Gedicht der dritten Generation

Alpines Einfaltslied

Zithern schnaufen
in den Röcken

Traute Rauferei
an den Füßen
der Flüsse

Wo das Wetter
verschworen

Kuhglocken

(Iself nach Norbert C. Kaser – Original – und Achim Wagner – 2. Generation)

12.2.08

Der Ton des Tages

Langsame stunden überm fluss

Langsame stunden überm fluss -
Die welle zischt wie im verdruss
Da von dem feuchten wind gefrischt
Ein schein bald blendet bald verwischt.

Wir standen hand in hand am strand
Da sah sie ähren in dem sand -
Sie trat hinzu und brach davon
Und fand auf diesen tag den ton:

Beginnend klang er hell und leicht
Wie von dem ziel das wir erreicht -
Dann ward er dumpfer als sie sang
Vom fernen glück - wie bang! wie lang!

Stefan George (1868-1933)

5.2.08

Auf der Achterbahn

... er welkt, er welkt schon ohne dich
und findet nicht den Weg
- Marjana Gaponenko

Der Weg führt über die Brücke,
dann im Bogen in die Niederung,
ins Tal, den Bach entlang.

Du kommst zur Brücke, schaust
hoch und siehst da einen,
der dich an dich erinnert.

– Johannes Beilharz (© 2008)

GROSSES BÖSES HAIKU

Das GROSSE BÖSE Haiku
macht Hackfleisch aus den
kleinen Geschwistern.

– Johannes Beilharz (© 2008)

Große böse und weit mehr kleine niedliche Haiku sind im Buchhandel oder Online-Buchhandel, wie z.B. Amazon, zu Hauf erhältlich.

26.1.08

Unvergängliches von Otto Julius Bierbaum

Ich ... war ... einmal

Oft weiß ich ganz genau: Ich ... war ... einmal;
Ich habe schon einmal all dies gesehn;
Der Baum vor meinem Fenster rauschte mir
Ganz so wie jetzt vor tausend Jahren schon;
All dieser Schmerz, all diese Lust ist nur
Ein Nochmals, Immerwieder, Spiegelung
Durch Raum und Zeit. - Wie sonderbar das ist:
Ein Fließen, Sinken, Untertauchen und
Ein neu Empor im gleichen Strome: Ich
Und immer wieder ich: Ich ... war ... einmal.

Otto Julius Bierbaum (1865-1910)

25.1.08

Das Perlhuhn


Das Perlhuhn

Das Perlhuhn zählt: eins, zwei, drei, vier ...
Was zählt es wohl, das gute Tier,
dort unter den dunklen Erlen?

Es zählt, von Wissensdrang gejückt,
(die es sowohl wie uns entzückt):
die Anzahl seiner Perlen.

– Christian Morgenstern (1871-1914)

Bedauernde Schlussbemerkung
Leider habe ich für dieses Gedicht kein Foto mit dunklen Erlen im Hintegrund finden können. Das wird mich wohl eine Weile jücken.

Eine englische Übersetzung befindet sich hier.

Gedichte und sonstige Werke von Christian Morgenstern sind in zahlreichen Ausgaben im Buchhandel und Online-Buchhandel, z.B. Amazon, erhältlich.

14.1.08

Tugend und Laster | zum 100. Todestag von Wilhelm Busch

Ach, ich fühl' es

Ach, ich fühl' es! Keine Tugend
Ist so recht nach meinem Sinn;
Stets befind' ich mich am wohlsten,
Wenn ich damit fertig bin.
Dahingegen so ein Laster,
Ja, das macht mir viel Pläsier;
Und ich hab' die hübschen Sachen
Lieber vor als hinter mir.

– Wilhelm Busch (15.4.1832-8.1.1908)

Die Werke von Wilhelm Busch sind erfreulicherweise im Buchhandel und Online-Buchhandel, z.B. Amazon, in verschiedenen Ausgaben erhältlich.

5.1.08

Emily Dickinson, Gedicht Nr. 479

Sie teilte hübsche Worte aus wie Klingen –
Wie sie doch glitzerten und funkelten –
Und jedes davon traf einen Nerv
Oder tändelte mit einem Knochen –

Nie hätte sie gedacht, sie könnte verletzen –
Das ist nicht Sache des Stahls –
Eine ordinäre Fratze im Fleisch –
Wie schlimm’s doch diese Kreaturen nehmen –

Der Schmerz ist menschlich, keine Höflichkeit –
Der Film auf dem Auge
Alter Brauch der Sterblichkeit –
Einfach das Schließen – hin zum Tode.

Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz

Deutsche Übertragung von poem 479 von Emily Dickinson, Copyright © 2007 Johannes Beilharz.

Von und über Emily Dickinson gibt es auf Deutsch eine erstaunlich breite Auswahl von Werken. Siehe z.B. Amazon.

30.12.07

Zum neuen Jahr 2008

Mit den besten Wünschen zu einem glücklichen 2008 und zur kommenden Zeit verbinde ich eine Übersetzung des Gedichtes "To England" von Richard Brautigan, das sich mit dem Phänomen der Zeit befasst – wenn auch eher in umgekehrter Richtung...

Nach England

Es gibt keine Briefmarken, die Briefe
vor dreihundert Jahren nach England zurückschicken,
keine Briefmarken, die Briefe zurückreisen lassen
zu der Zeit, als das Grab noch nicht gegraben ist,
als John Donne am Fenster steht und hinausschaut.
Es fängt gerade an zu regnen an diesem Aprilmorgen,
die Vögel fallen in die Bäume ein
wie Schachfiguren eines ungespielten Spiels,
und John Donne sieht, wie der Briefträger die Straße heraufkommt,
mit sehr vorsichtigen Schritten, da sein Stock
aus Glas ist.

– Richard Brautigan (ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz)

11.12.07

Max Dauthendey / die Welt über Kopf

Im Grund deiner Augen

Im Grund deiner Augen steht meine Welt auf dem Kopf,
Dort lächle ich meinen Feinden zu und küsse dem Tod die Finger.

Klopfe an mit dem warmen Hammer in deiner Brust,
Es ist ein Schatz in meinem Meer. Täglich ging ich hinter dir her,

Sammelte deine Worte und deine Gebärde, zog Gold darum
Und versteckte sie unter roter Erde in einem roten Meer.

– Max Dauthendey

Aus Die ewige Hochzeit – Der brennende Kalender, 1905

Von Max Dauthendey ist im Buchhandel leider kaum etwas nicht Vergriffenes erhältlich. Das antiquarische Angebot ist jedoch erfreulich groß, siehe z.B. Amazon.

10.12.07

Spitzköpfiges, gelbhaariges Rätsel von Georg Heym

Spitzköpfig kommt er über die Dächer hoch
Und schleppt seine gelben Haare nach,
Der Zauberer, der still in die Himmelszimmer steigt
In vieler Gestirne gewundenem Blumenpfad.

Alle Tiere unten im Wald und Gestrüpp
Liegen mit Häuptern sauber gekämmt,
Singend den Mond-Choral. Aber die Kinder
Knien in den Bettchen in weißem Hemd.

Meiner Seele unendliche See
Ebbet langsam in sanfter Flut.
Ganz grün bin ich innen. Ich schwinde hinaus
Wie ein gläserner Luftballon.

– Georg Heym (1887-1912)

Dieses Gedicht des "Expressionisten" Heym, irgendwo zwischen Erde und Mond schwebend, mutet eher an wie ein Surrealismus-Vorläufer. Wenn da nicht die Seele wäre... (denn die Surrealisten hatten mit Seele nicht viel am Hut).

26.11.07

Deftige Worte von Goethe

Rezensent

Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last;
Ich hatt just mein gewöhnlich Essen,
Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu räsonieren:
»Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.«
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

– Johann Wolfgang von Goethe

Anmerkung
Die letzte Zeile dieses Gedichts wird häufig zitiert. Ich hatte sie allerdings noch nie im Kontext des gesamten Gedichts gelesen. Tja, so sind sie manchmal, die Herren (Damen) Rezensenten.

16.11.07

Lohnt es sich, ein wenig lieb zu sein?

Und gleich wird die Frage von Joachim Ringelnatz - einmal in einer nicht satirischen Laune - beantwortet:

Es lohnt sich doch

Es lohnt sich doch, ein wenig lieb zu sein
Und alles auf das Einfachste zu schrauben,
Und es ist gar nicht Großmut zu verzeihn,
Daß andere ganz anders als wir glauben.

Und stimmte es, daß Leidenschaft Natur
Bedeutete im guten und im bösen,
Ist doch ein Knoten in dem Schuhband nur
Mit Ruhe und mit Liebe aufzulösen.

Joachim Ringelnatz (1883-1934)

25.9.07

Alfred Lichtenstein: Mädchen

Mädchen

Sie halten den Abend der Stuben nicht aus.
Sie schleichen in tiefe Sternstraßen hinaus.
Wie weich ist die Welt im Laternenwind!
Wie seltsam summend das Leben zerrinnt . . .

Sie laufen an Gärten und Häusern vorbei,
Als ob ganz fern ein Leuchten sei,
Und sehen jeden lüsternen Mann
Wie einen süßen Herrn Heiland an.

– Alfred Lichtenstein (1889-1915)

Ein eigenartiges Verhalten, das Lichtenstein da beobachtet. Machen das die Mädchen heutzutage auch noch so?