20.7.07

Lyrik-Bestseller

Klingt wie ein Paradox, gibt's aber anscheinend doch, wie ich heute beim Blogstöbern las.

Zunächst blätterte ich ein bisschen im Glarean-Magazin, dessen Herausgeber Walter Eigenmann vor ein paar Tagen per E-Mail Beiträge angefragt hatte, und stieß dort auf den hochbrisant klingenden Text Auf dem Weg zum guten Gedicht, in dem verschiedene Empfehlungen zum richtigen Reimen und – für die weniger Begabten – auch zum richtigen freien Dichten abgegeben werden. So steht da zum Beispiel ebenso gegen Regelwidrigkeit warnend wie klipp und klar, "Viele heutige Dichter versuchen alle Regeln des Dichtens dadurch zu umgehen, dass sie frei dichten." Es ist schon ein schweres Vergehen mit der regelwidrigen Dichterei!

Geschrieben wurde der Artikel von einer Vera Simon, über die am Ende des Artikels zu lesen war:

Veröffentlichung verschiedener Lyrik- und Geschenkbuch-Bestseller

Kaum zu fassen! Also nichts wie hin zum ebenfalls hinterlegten Link zur Homepage der Autorin. Dort finden sich etliche Leseproben. Auf der Seite Die Autorin ist unter anderem zu lesen:


... mein erstes Geschenkbuch ("Was ich an dir mag") wurde ein voller Erfolg und so bekam ich einen Auftrag nach dem anderen. Mein Bestseller "Ich liebe dich noch immer" hat längst die 150.000er Auflage hinter sich ...

Es gibt also doch noch Hoffnung für uns Dichter. Wir müssen uns halt endlich an die richtigen Regeln halten...

Die Gedichtbände von Vera Simon sind im Buchhandel erhältlich, siehe z.B. Amazon.

19.7.07

Snail survival stratagem

The snail
with its stalked eye
spied a boot
which was walking by.

“Oh no,” he thought (or she),
“this big loud thing
is bound to bring
death or misery!

Down with my eyes!
What I can’t see
will never do
any harm to me.”

Narrow escape
and lesson learned:
If you close your eyes
you won’t get burned!

– Felix Morgenstern (© 2007)

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18.7.07

Ringelnatz on silence

Silence

There are some people who bow
To those given to extended silence
With a serious brow.

And then there are those who resent
Contemporaries with a silent bent.

All in all, noone should confuse
Silence with a statement that is of much use.

Johannes Beilharz

An attempted English paraphrase of the following poem by Joachim Ringelnatz (1883-1934):

Schweigen

Manche Leute verneigen
Sich gerne vor Leuten, die ernsten Gesichts
Langdauernd schweigen.

Manche Leute neigen
Dazu, zu grollen, wenn andere schweigen.
Schonet das Schweigen! Es sagt doch nichts.

17.7.07

Etwas von Richard Brautigan

Sitkomma und Creeleykomma

Es ist Frühling und die Nonne,
wie ein schwarzer Frosch,
baut ihre Dachpappenhütte
unten am See.
Wie schön sie ist
(und aussieht), umgeben
von ihren Dachpapperollen.
Sie kennen ihren Namen,
sie sprechen ihn aus.

Richard Brautigan (Sit Comma and Creeley Comma aus The Pill Versus the Springhill Mine Disaster, 1968, übertragen von Johannes Beilharz)

Über den Autor
Richard Brautigan (1935-1984) war ein amerikanischer Autor, der in seinem Heimatland zunächst mit Gedichten (!) und dann mit Romanen wie Trout Fishing in America und In Watermelon Sugar Kultstatus erlangte. Mit einer Mischung aus Witz, Skurrilem und Antikultur traf er eine Zeitlang den Atem der Zeit und eine breite "alternative" Leserschaft. In der Literaturlandschaft dürfte er eine der wenigen Ausnahmeerscheinungen sein, die mit Gedichtbänden hohe Auflagen erreichten.

Link
Kritischer Dosenöffner und weitere Gedichte von Richard Brautigan in deutscher Übersetzung

16.7.07

Robert Frost: The Road Not Taken / Der andere Weg

The Road Not Taken

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveller, long I stood
And looked down one as far as l could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads on to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I -
I took the one less travelled by,
And that has made all the difference.

– Robert Frost

Der andere Weg

Ein Weg trennte sich im herbstlichen Wald
In zwei, doch ich war leider allein.
Als zaudernder Wand'rer sah ich kalt
Dem einen nach bis dort, wo er bald
Sich krümmte ins Gehölz hinein;

Dann sah ich den And'ren, genauso fein,
Und hatte vielleicht das bessere Ziel,
Da sein Gras wollte begangen sein;
Obgleich, und das galt für mich allein,
Entweiht hätt' ich beide ebensoviel.

Beide an jenem Morgen gleich lagen
Ohne Spuren, von Blättern belegt.
Oh, ich schenkte den Ersten späteren Tagen!
Weg führt zu Weg, so wollt' ich's wagen,
Auch wenn's mich hierher nie wieder verschlägt.

Ich werde ergriffen Dir davon singen
In fernen Jahrzehnten als mein Lied:
Am Scheideweg nach kurzem Ringen,
Nahm ich den Stilleren unter die Schwingen,
Und das war der große Unterschied.

– Übersetzung von Peter Morisse (2001)

Morgenstern zoology

The wingambat

The wingambat haunteth
through weerowarowood,
the ruby fingoor taunteth,
and cruelly laughs the drood.

Christian Morgenstern (1871-1914), translated by Johannes Beilharz (*1956)

Note
This is a translation of Morgenstern's "Der Flügelflagel" (see preceding post).

Morgensternsches Getier

Der Flügelflagel

Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz.

– Christian Morgenstern (1871-1914)

Englische Übertragung siehe Morgenstern zoology.