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11.9.24

Runde Zeit

 

   

Habe ich heute
doch tatsächlich um zwölf Uhr
auf die Uhr geschaut

– Iself (© 2024)

12.6.24

Schmelzende Eiskrem am Rand deines letzten Gedankens

 


Na ja, nennen wir’s ein

Leben.

– Richard Brautigan

Übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original befindet sich in Richard Brautigan, Rommel Drives On Deep Into Egypt (1970).

Foto von Richard Brautigan, Datum und Urheber unbekannt.

Krad-Haiku, frühmorgens

 


Im Hinterhof bruttelt
eine Möchtegern-Harley
so vor sich hin.

– Iself (© 2024)

Anmerkung des Autors
Beruht auf authentischer Erfahrung. Unmittelbar lyrisch umgesetzt.


2.6.24

José Moreno Villa / Die Wahrheit

 


Die Wahrheit

            Für mich gibt es eine Zeile am Himmel.
Ich sehe sie, ich schaue sie an;
ich kann sie nicht übersetzen,
sie ist verschlüsselt.
Ich verstehe sie mit meinem ganzen Körper;
aussprechen kann ich sie nicht.

– José Moreno Villa

Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz (© 2024).
Aus: Diez siglos de poesía castellana, Hrsg. Vicente Gaos, Madrid 1975.

Der spanische Dichter, Übersetzer, Essayist und Maler José Moreno Villa (geb. 1884 in Málaga, gest. 1955 in Mexiko) studierte Chemie in Freiburg im Breisgau, dann Geschichte in Madrid. Er arbeitete in Madrid als Bibliothekar und später als Archivar. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs übersiedelte er in die USA und später nach Mexiko. Er war Mitglied der Dichtergruppe Generación del 27, zu der u.a. auch Federico García Lorca, Rafael Alberti, Jorge Guillén and Vicente Aleixandre gehörten.

Spanisches Original:


La verdad

            Un renglón hay en el cielo para mí.
Lo veo, lo estoy mirando;
no lo puedo traducir,
es cifrado.
Lo entiendo con todo el cuerpo;
no sé hablarlo.

– José Moreno Villa

23.5.24

Ein Gedicht, das nie geschrieben werden wollte

Würde man es fragen
– was absurd ist –
würde es nichts sagen
oder verwundert
mit den Wimpern klimpern

Denn Wimpern wurden ihm
angedichtet –
lange, sanft gebogene,
fast wie aus dem Schönheitssalon

– Nicole Weiß (© 2024) 

20.11.23

Nan Witcomb – Im Kopf liebe ich den Geschmack des Lebens

 


Im Kopf 
liebe ich den Geschmack des Lebens – 
In Wirklichkeit jedoch 
geht die Süße 
oft in der Verwirrung
des Lebens verloren ...

– Nan Witcomb

Ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz im November 2023 zu Ehren der diesen Monat im Alter von 95 Jahren verstorbenen australischen Autorin.

9.11.23

Richard Brautigan – Endlich stimmen unsere Körper überein

 


Endlich stimmen unsere Körper überein.
Ich wette, du dachtest, das 
würde nie geschehen. Auch ich 
hielt es für unwahrscheinlich.
Eine angenehme Überraschung.

– Richard Brautigan

Originaltitel: “At Last Our Bodies Coincide”, aus Richard Brautigan, Rommel Drives On Deep Into Egypt (1970). Ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz.

24.5.23

25 Grad

Dame
mit
schwarzer
Sonnenbrille
und
I-Phone
mit
geschlossenen
Fenstern
im
schwarzen
Mercedes
neben
mir
lässt
den
Motor
laufen
und
sich
mit
kühler
Kunstluft
berieseln
während
sie
vor
der
Schule
bei
25 Grad
auf
ihren
Nachwuchs
wartet

Ihre
Rechnung
geht
auf

Was
sind
schon
ein
Liter
Benzin
und
etwas
Co2
und
Stickoxid
im
Vergleich
zur
eigenen
Behaglichkeit

Ist
doch
bezahlbar

– Iself (© 2023)

 

So mitbekommen am Nachmittag des 23. Mais 2023 und nichts dazuerfunden.

27.4.23

Das wird wieder ein Münchhausen-Gedicht!

 


Ich sag dir, das wird wieder ein Münchhausen-Gedicht!

Wieso denn das?

Weil es sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf hievt.

  

– Iself (© 2023)

  

Ist das nun ein echter Kalauer oder nicht?

16.3.23

Octavio Paz – Tanghi-Garu-Pass

 


Tanghi-Garu-Pass

Ein belastetes Land:
Der Winter hat es mit seinen Waffen gezeichnet,
Dornenkleid war der Frühling.

Berge von Glimmer. Schwarze Ziegen.
Unter den schlafwandlerischen Hufen
Schimmert missbilligend der Schiefer.

Feststehende Sonne, angenagelt
An die riesige steinerne Narbe.
Der Tod denkt uns.

– Octavio Paz

Titel des spanischen Originals: Paso de Tanghi-Garu. Aus: Octavio Paz, Ladera Este, 1969. Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz. Der Pass im Titel des Gedichts, auch Tang-e Ghārō geschrieben, befindet sich in Afghanistan an der Strecke von Dschalalabad nach Kabul.

Foto von Octavio Paz von Ricardo Salazar

9.2.23

Charles Bukowski – Sie schlug die Tür zu

Sie schlug die Tür zu und war weg. 
Ich schaute auf die geschlossene Tür
und auf den Türknauf, und seltsamerweise 
fühlte ich mich nicht allein.

– Charles Bukowski

Ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz. Das amerikanische Original stammt aus Bukowskis Gedichtband You Get So Alone at Times That It Just Makes Sense (1986).

7.7.22

Yannis Ritsos - Vielleicht, eines Tages

 


Yannis Ritsos

Vielleicht, eines Tages

Ich möchte dir diese rosa Wolken in der Nacht zeigen.
Du siehst aber nichts. Es ist Nacht – was kann man da schon sehen?

Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mit deinen Augen zu sehen, sagte er,
damit ich nicht allein bin, damit du nicht allein bist. Und tatsächlich 
ist da nichts, da drüben, wo ich hinzeige.

Nur die Sterne drängen sich in der Nacht zusammen, müde, 
wie Leute, die im Lastwagen von einem Picknick zurückkommen, 
enttäuscht, hungrig, niemand singt, 
mit verwelkten Wildblumen in den verschwitzten Handflächen.

Aber ich werde darauf bestehen, zu sehen und dir zu zeigen, sagte er, 
denn wenn du nichts siehst, wird es so sein, als sähe auch ich nichts –  
ich werde wenigstens darauf bestehen, nicht mit deinen Augen zu sehen – 
und vielleicht werden wir eines Tages aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander treffen.

Titel des griechischen Originals: Ίσως μια μέρα. Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© 2022). 

Photo by Nacho Rochon on Unsplash

16.6.22

Die kürzeste je geschriebene Ode

 

– Iself (© 2022) 

Was der Autor nach dem Ersinnen dieser kürzesten Ode aller Zeiten notierte:

Fiel mir vor ein paar Minuten ein, als ich bei Federico García Lorca über irgendwelche Oden stolperte.

Ist mir eigentlich komplett egal, was eine Ode ist.

Jedenfalls sind die Chancen dieses Meisterwerks, jemand anzuöden (wie dies bei Oden öfter vorkommt), eher gering.

18.5.22

Gabriel Ferrater – Wenn ich kann

 


Wenn ich kann

Etwas ist in ein Gedicht 
eingetreten, von dem ich weiß, 
dass ich es schreiben muss, und 
ich weiß nicht, wann, wie oder was 
es ausdrücken wird. Wenn ich kann, 
werde ich es zu dir hinführen.
Lass es von deinem Haar sprechen 
oder der Sonnenflocke, 
die auf deinem Fingernagel tanzt.
Aber vielleicht wird mir nicht immer 
ganz in Erinnerung sein, wie ich dich jetzt sehe.
Ich habe den dunklen Klang 
von etwas gehört, das mir in einen 
Brunnen hineingefallen ist. Werde ich, wenn es 
aufsteigt, erkennen, dass es diesem Moment entstammt?

– Gabriel Ferrater

Titel des katalanischen Originals Si puc, erschienen in: Gabriel Ferrater, Mujeres y días / Edición bilingüe, Seix Barral, Barcelona, 1979.

Aus dem Katalanischen übersetzt von Johannes Beilharz anlässlich des 100. Geburtstag seines Autors am 22.5.2022. 

Copyright © der Übersetzung Johannes Beilharz 2022. Wiedergabe, Kopieren nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch den Übersetzer.

Weitere Gedichte von Gabriel Ferrater in Übersetzung von Johannes Beilharz sind hier zu finden.



2.4.22

Dmytro Chystiak – Lebendiges Land

Lebendiges Land

   

Für Anastassiya Kobzina und Ilia Solovyov, in memoriam


І

Mein Großvater starb ohne ein Wort über den Krieg.

Ohne ein Wort über den Krieg starb meine Großmutter.

Über Hunger und Arbeit an der Front

Ließen sie ein paar harte Worte fallen, mehr nicht.

Der 9. Mai war der größte ihrer Feiertage,

Ihre Lieder, ihre Tränen, ohne ein Wort über den Krieg.

“Ich werde nicht reden, mein Herr! 

Nie wieder, nie wieder. Wir werfen dich

Auf den Karren und dann ins Massengrab.”

Die Worte meiner Großmutter an ihrem Grab.


ІІ

In meinem Bücherregal, unter den Bombardements,

Die mit Orden bedeckte Uniform meines Großvaters,

Sein Dolch (17 Jahre alt, Schtscholkowo bei Moskau,

Dann die Nordsee, viele Tote

In diesem Land aus Eis, dann der Gesang,

Fußball, Kachowka und Kiew, die Liebe seines Lebens,

Die mich auch heute noch zum Lächeln bringt),

Die Medaillen meiner Großmutter, Tochter des Krieges

(Kindheit in der Kolchose, alles für die Front,

Und ein freundlicher Deutscher sagt “Versteck dich!”,

In der Region Winnyzja ein ganzer Winter,

Auf dem Dachboden versteckt sie sich, und die Ostarbeiter werden abgeholt.

Dann der Gesang, der Sozialismus und der Absturz

Und seine Recherchen über Stalins große Hungersnot),

Sie bleiben trotzdem zusammen, mit

Zwei Schwesterrepubliken, in den Bücherregalen,

Unter den Bombardierungen, explodieren dann.


ІІІ

Dieses Winterland ist lebendig, tief.

Kein Wort über den Krieg in ihrem gemeinsamen Grab.

Die Rakete weckt sie auf, wie sie es im Heiligtum von Babi Yar tat,

Und sie kommen aus der anderen Welt, aber ich weiß,

Sie sind nicht auf der anderen Seite, sie schließen sich

Uns an. Und meine Großmutter verharrt

Mit den Freiwilligen, und mein Großvater mit den Matrosen,

Auf unserer Seite, bei denen, die den Kosaken folgen,

Denen, die die Angst ignorieren und sich

Ungeschützt auf Panzer werfen, in der Steppe,

Wie zu den Zeiten der Hellenen, in diesem alten Land

Wo "Ruhm!" fällt, Donner auf Donner.


ІV

Dieses Winterland ist noch lebendig, so weit weg.

Mein Großvater aus Schtscholkowo kämpft,

Meine Großmutter aus Hajssyn bleibt standhaft,

Hinter ihnen der Widerhall von Dunkelheit über Dunkelheit,

Lichtern über Lichtern, Welten über Welten,

Blutig, auf den Kreuzen wachsen

Die Rosen des himmlischen Jerusalem,

Ihr Blut vereint Konstantinopel und Kiew,

Das Rubedo der wiederauferstandenen Städte,

Jahrhundert um Jahrhundert, Tempel um Tempel,

Um unseren gemeinsamen Baum zu gießen,

Auf einen Frühling hin, der endlich zu erkennen ist.


Verfasst am 7.3.2022 in Kiew


– Dmytro Chystiak


Aus einer vom Autor erhaltenen englischen Fassung mit seiner freundlichen Genehmigung ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz.

22.1.22

Kabir – Verleumdung

 


Verleumdung

   

Verleumdung! Verleumdung! 

     Die Leute verspotten mich –  

die Leute lieben es wirklich

     zu verleumden und zu beflecken.

Verleumdung ist mein Vater,

     Verleumdung ist meine Mutter.


Wenn dein Name angeschwärzt wurde,

     gehst du nach Vaikuntha –  

die Bedeutung des wahren Namens

     wird sich in deinem Geist festsetzen.


Es gibt so viel Verleumdung,

     mein Herz ist geläutert –  

mein Verleumder

     schrubbt meine Kleider sauber.


Wer mich verleumdet

     ist mein Freund – 

mein Herz öffnet sich

     jedem Verleumder.


Wer aufhört, mich zu verunglimpfen,

     ist mein wahrer Kritiker – 

ein solcher Anprangerer

     macht mir das Leben zur Hölle.


Die Verleumdung ist

     meine innig Geliebte – 

Verunglimpfung bringt mich

     in ihre Schuld.


Jeder

     schleudert Schlamm auf Kabir – 

mein Verleumder ertrinkt,

     ich lande am anderen Ufer.


Kabir (1398-1448)

Aus: Kabir – The Weaver’s Songs, ins Englische übersetzt von Vinay Dharwadker (Penguin Books India, 2003). Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz (© 2022).

Kabir in satirischer Stimmung. Seine Antwort auf Verleumdung erinnert an Jesus’ subversiven Rat, die andere Wange hinzuhalten.

24.2.21

Im Osten nichts Neues

 


Hämmern, Bohren, Schleifen jeden Tag – 
das ist’s, was der Nachbar mag.

– Felix Morgenstern (© 2021)

Nachbemerkung
So versüßt der Nachbar im Osten nun schon seit Jahren die Tage.

Foto von Benjamin Trösch auf Unsplash

20.9.20

Yannis Ritsos - Vollständigkeit, beinahe

 VOLLSTÄNDIGKEIT, BEINAHE

Weißt du, den Tod gibt es nicht, sagte er zu ihr.
Ich weiß, ja, jetzt, nachdem ich tot bin, antwortete sie.
Deine zwei Hemden sind gebügelt und in der Schublade,
das einzige, was ich vermisse, ist eine kleine Rose.

– Yannis Ritsos

Übertragen von Johannes Beilharz. Titel des griechischen Originals: ΣΧΕΔΟΝ ΠΛΗΡΟΤΗΤΑ.

Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung


21.6.20

Paul Zech – Die Häuser haben Augen aufgetan...



Die Häuser haben Augen aufgetan...

Am Abend stehn die Dinge nicht mehr blind
und mauerhart in dem Vorüberspülen
gehetzter Stunden; Wind bringt von den Mühlen
gekühlten Tau und geisterhaftes Blau.

Die Häuser haben Augen aufgetan,
Stern unter Sternen ist die Erde wieder,
die Brücken tauchen in das Flußbett nieder
und schwimmen in der Tiefe Kahn an Kahn.

Gestalten wachsen groß aus jedem Strauch,
die Wipfel wehen fort wie träger Rauch
und Täler werfen Berge ab, die lange drückten.

Die Menschen aber staunen mit entrückten
Gesichtern in der Sterne Silberschwall
und sind wie Früchte reif und süß zum Fall.

Paul Zech (1881-1946)

Zitiert aus Menschheitsdämmerung - ein Dokument des Expressionismus, herausgegeben von Kurth Pinthus (1920)