Habe ich heute
doch tatsächlich um zwölf Uhr
auf die Uhr geschaut
– Iself (© 2024)
A blog dedicated to literature in its multivarious forms and to other forms of art (visual, film, photography)
Na ja, nennen wir’s ein
Leben.
– Richard Brautigan
Im Hinterhof bruttelt
eine Möchtegern-Harley
so vor sich hin.
– Iself (© 2024)
Anmerkung des Autors
Beruht auf authentischer Erfahrung. Unmittelbar lyrisch umgesetzt.
Die
Wahrheit
Für mich gibt es eine Zeile am
Himmel.
Ich sehe sie, ich schaue sie an;
ich kann sie nicht übersetzen,
sie ist verschlüsselt.
Ich verstehe sie mit meinem ganzen Körper;
aussprechen kann ich sie nicht.
– José Moreno Villa
Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz (© 2024). Aus: Diez siglos de poesía castellana, Hrsg. Vicente Gaos, Madrid 1975.
Der spanische Dichter, Übersetzer, Essayist und Maler José Moreno Villa (geb.
1884 in Málaga, gest. 1955 in Mexiko) studierte Chemie in Freiburg im Breisgau,
dann Geschichte in Madrid. Er arbeitete in Madrid als Bibliothekar und später
als Archivar. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs übersiedelte er in die USA und
später nach Mexiko. Er war Mitglied der Dichtergruppe Generación del 27, zu der u.a. auch Federico García Lorca, Rafael
Alberti, Jorge Guillén and Vicente Aleixandre gehörten.
Spanisches Original:
La
verdad
Un renglón hay en el cielo
para mí.
Lo veo, lo estoy mirando;
no lo puedo traducir,
es cifrado.
Lo entiendo con todo el cuerpo;
no
sé hablarlo.
–
José Moreno Villa
Würde
man es fragen
– was absurd ist –
würde es nichts sagen
oder verwundert
mit den Wimpern klimpern
Denn Wimpern wurden ihm
angedichtet –
lange, sanft gebogene,
fast wie aus dem Schönheitssalon
– Nicole Weiß (© 2024)
Im Kopf
liebe ich den Geschmack des Lebens –
In Wirklichkeit jedoch
geht die Süße
oft in der Verwirrung
des Lebens verloren ...
– Nan Witcomb
Ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz im November 2023 zu Ehren der diesen Monat im Alter von 95 Jahren verstorbenen australischen Autorin.
Dame
mit
schwarzer
Sonnenbrille
und
I-Phone
mit
geschlossenen
Fenstern
im
schwarzen
Mercedes
neben
mir
lässt
den
Motor
laufen
und
sich
mit
kühler
Kunstluft
berieseln
während
sie
vor
der
Schule
bei
25 Grad
auf
ihren
Nachwuchs
wartet
Ihre
Rechnung
geht
auf
Was
sind
schon
ein
Liter
Benzin
und
etwas
Co2
und
Stickoxid
im
Vergleich
zur
eigenen
Behaglichkeit
Ist
doch
bezahlbar
– Iself (© 2023)
Ich sag dir, das wird wieder ein Münchhausen-Gedicht!
Wieso denn das?
Weil es sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf hievt.
– Iself (© 2023)
Ist das nun ein echter Kalauer oder nicht?
Ein belastetes Land:
Der Winter hat es mit seinen Waffen gezeichnet,
Dornenkleid war der Frühling.
Berge von Glimmer. Schwarze Ziegen.
Unter den schlafwandlerischen Hufen
Schimmert missbilligend der Schiefer.
Feststehende Sonne, angenagelt
An die riesige steinerne Narbe.
Der Tod denkt uns.
– Octavio Paz
Titel des spanischen Originals: Paso de Tanghi-Garu. Aus: Octavio Paz, Ladera Este, 1969. Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz. Der Pass im Titel des Gedichts, auch Tang-e Ghārō geschrieben, befindet sich in Afghanistan an der Strecke von Dschalalabad nach Kabul.
Foto von Octavio Paz von Ricardo Salazar
Sie schlug die Tür zu und war weg.
Ich schaute auf die geschlossene Tür
und auf den Türknauf, und seltsamerweise
fühlte ich mich nicht allein.
Ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz. Das amerikanische Original stammt aus Bukowskis Gedichtband You Get So Alone at Times That It Just Makes Sense (1986).
Ich möchte dir diese rosa Wolken in der Nacht zeigen.
Du siehst aber nichts. Es ist Nacht – was kann man da schon sehen?
Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mit deinen Augen zu sehen, sagte er,
damit ich nicht allein bin, damit du nicht allein bist. Und tatsächlich
ist da nichts, da drüben, wo ich hinzeige.
Nur die Sterne drängen sich in der Nacht zusammen, müde,
wie Leute, die im Lastwagen von einem Picknick zurückkommen,
enttäuscht, hungrig, niemand singt,
mit verwelkten Wildblumen in den verschwitzten Handflächen.
Aber ich werde darauf bestehen, zu sehen und dir zu zeigen, sagte er,
denn wenn du nichts siehst, wird es so sein, als sähe auch ich nichts –
ich werde wenigstens darauf bestehen, nicht mit deinen Augen zu sehen –
und vielleicht werden wir eines Tages aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander treffen.
Titel des griechischen Originals: Ίσως μια μέρα. Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© 2022).
Photo by Nacho Rochon on Unsplash
– Iself (© 2022)
Was der Autor nach dem Ersinnen dieser kürzesten Ode aller Zeiten notierte:
Fiel mir vor ein paar Minuten ein, als ich bei Federico García Lorca über irgendwelche Oden stolperte.
Ist mir eigentlich komplett egal, was eine Ode ist.
Jedenfalls sind die Chancen dieses Meisterwerks, jemand anzuöden (wie dies bei Oden öfter vorkommt), eher gering.
Etwas ist in ein Gedicht
eingetreten, von dem ich weiß,
dass ich es schreiben muss, und
ich weiß nicht, wann, wie oder was
es ausdrücken wird. Wenn ich kann,
werde ich es zu dir hinführen.
Lass es von deinem Haar sprechen
oder der Sonnenflocke,
die auf deinem Fingernagel tanzt.
Aber vielleicht wird mir nicht immer
ganz in Erinnerung sein, wie ich dich jetzt sehe.
Ich habe den dunklen Klang
von etwas gehört, das mir in einen
Brunnen hineingefallen ist. Werde ich, wenn es
aufsteigt, erkennen, dass es diesem Moment entstammt?
– Gabriel Ferrater
Titel des katalanischen Originals Si puc, erschienen in: Gabriel Ferrater, Mujeres y días / Edición bilingüe, Seix Barral, Barcelona, 1979.
Aus dem Katalanischen übersetzt von Johannes Beilharz anlässlich des 100. Geburtstag seines Autors am 22.5.2022.
Copyright © der Übersetzung Johannes Beilharz 2022. Wiedergabe, Kopieren nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch den Übersetzer.
Weitere Gedichte von Gabriel Ferrater in Übersetzung von Johannes Beilharz sind hier zu finden.
Für Anastassiya Kobzina und Ilia Solovyov, in memoriam
І
Mein Großvater starb ohne ein Wort über den Krieg.
Ohne ein Wort über den Krieg starb meine Großmutter.
Über Hunger und Arbeit an der Front
Ließen sie ein paar harte Worte fallen, mehr nicht.
Der 9. Mai war der größte ihrer Feiertage,
Ihre Lieder, ihre Tränen, ohne ein Wort über den Krieg.
“Ich werde nicht reden, mein Herr!
Nie wieder, nie wieder. Wir werfen dich
Auf den Karren und dann ins Massengrab.”
Die Worte meiner Großmutter an ihrem Grab.
ІІ
In meinem Bücherregal, unter den Bombardements,
Die mit Orden bedeckte Uniform meines Großvaters,
Sein Dolch (17 Jahre alt, Schtscholkowo bei Moskau,
Dann die Nordsee, viele Tote
In diesem Land aus Eis, dann der Gesang,
Fußball, Kachowka und Kiew, die Liebe seines Lebens,
Die mich auch heute noch zum Lächeln bringt),
Die Medaillen meiner Großmutter, Tochter des Krieges
(Kindheit in der Kolchose, alles für die Front,
Und ein freundlicher Deutscher sagt “Versteck dich!”,
In der Region Winnyzja ein ganzer Winter,
Auf dem Dachboden versteckt sie sich, und die Ostarbeiter werden abgeholt.
Dann der Gesang, der Sozialismus und der Absturz
Und seine Recherchen über Stalins große Hungersnot),
Sie bleiben trotzdem zusammen, mit
Zwei Schwesterrepubliken, in den Bücherregalen,
Unter den Bombardierungen, explodieren dann.
ІІІ
Dieses Winterland ist lebendig, tief.
Kein Wort über den Krieg in ihrem gemeinsamen Grab.
Die Rakete weckt sie auf, wie sie es im Heiligtum von Babi Yar tat,
Und sie kommen aus der anderen Welt, aber ich weiß,
Sie sind nicht auf der anderen Seite, sie schließen sich
Uns an. Und meine Großmutter verharrt
Mit den Freiwilligen, und mein Großvater mit den Matrosen,
Auf unserer Seite, bei denen, die den Kosaken folgen,
Denen, die die Angst ignorieren und sich
Ungeschützt auf Panzer werfen, in der Steppe,
Wie zu den Zeiten der Hellenen, in diesem alten Land
Wo "Ruhm!" fällt, Donner auf Donner.
ІV
Dieses Winterland ist noch lebendig, so weit weg.
Mein Großvater aus Schtscholkowo kämpft,
Meine Großmutter aus Hajssyn bleibt standhaft,
Hinter ihnen der Widerhall von Dunkelheit über Dunkelheit,
Lichtern über Lichtern, Welten über Welten,
Blutig, auf den Kreuzen wachsen
Die Rosen des himmlischen Jerusalem,
Ihr Blut vereint Konstantinopel und Kiew,
Das Rubedo der wiederauferstandenen Städte,
Jahrhundert um Jahrhundert, Tempel um Tempel,
Um unseren gemeinsamen Baum zu gießen,
Auf einen Frühling hin, der endlich zu erkennen ist.
Verfasst am 7.3.2022 in Kiew
– Dmytro Chystiak
Aus einer vom Autor erhaltenen englischen Fassung mit seiner freundlichen Genehmigung ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz.
Verleumdung! Verleumdung!
Die Leute verspotten mich –
die Leute lieben es wirklich
zu verleumden und zu beflecken.
Verleumdung ist mein Vater,
Verleumdung ist meine Mutter.
Wenn dein Name angeschwärzt wurde,
gehst du nach Vaikuntha –
die Bedeutung des wahren Namens
wird sich in deinem Geist festsetzen.
Es gibt so viel Verleumdung,
mein Herz ist geläutert –
mein Verleumder
schrubbt meine Kleider sauber.
Wer mich verleumdet
ist mein Freund –
mein Herz öffnet sich
jedem Verleumder.
Wer aufhört, mich zu verunglimpfen,
ist mein wahrer Kritiker –
ein solcher Anprangerer
macht mir das Leben zur Hölle.
Die Verleumdung ist
meine innig Geliebte –
Verunglimpfung bringt mich
in ihre Schuld.
Jeder
schleudert Schlamm auf Kabir –
mein Verleumder ertrinkt,
ich lande am anderen Ufer.
– Kabir (1398-1448)
Aus: Kabir – The Weaver’s Songs, ins Englische übersetzt von Vinay Dharwadker (Penguin Books India, 2003). Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz (© 2022).
Kabir in satirischer Stimmung. Seine Antwort auf Verleumdung erinnert an Jesus’ subversiven Rat, die andere Wange hinzuhalten.
Hämmern, Bohren, Schleifen jeden Tag –
das ist’s, was der Nachbar mag.
– Felix Morgenstern (© 2021)
Nachbemerkung
So versüßt der Nachbar im Osten nun schon seit Jahren die Tage.
Foto von Benjamin Trösch auf Unsplash
Weißt du, den Tod gibt es nicht, sagte er zu ihr.
Ich weiß, ja, jetzt, nachdem ich tot bin, antwortete sie.
Deine zwei Hemden sind gebügelt und in der Schublade,
das einzige, was ich vermisse, ist eine kleine Rose.
– Yannis Ritsos
Übertragen von Johannes Beilharz. Titel des griechischen Originals: ΣΧΕΔΟΝ ΠΛΗΡΟΤΗΤΑ.
Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung