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12.6.20

Ernst Stadler – In der Frühe


In der Frühe

Die Silhouette deines Leibs steht in der Frühe dunkel vor dem trüben Licht
Der zugehangnen Jalousien. Ich fühl, im Bette liegend, hostiengleich mir zugewendet dein Gesicht.
Da du aus meinen Armen dich gelöst, hat dein geflüstert »Ich muß fort« nur an die fernsten Tore meines Traums gereicht –
Nun seh ich, wie durch Schleier, deine Hand, wie sie mit leichtem Griff das weiße Hemd die Brüste niederstreicht ...
Die Strümpfe ... nun den Rock ... Das Haar gerafft ... schon bist du fremd, für Tag und Welt geschmückt ...
Ich öffne leis die Türe ... küsse dich ... du nickst, schon fern, ein Lebewohl ... und bist entrückt.
Ich höre, schon im Bette wieder, wie dein sachter Schritt im Treppenhaus verklingt,
Bin wieder im Geruche deines Körpers eingesperrt, der aus den Kissen strömend warm in meine Sinne dringt.
Morgen wird heller. Vorhang bläht sich. Junger Wind und erste Sonne will herein.
Lärmen quillt auf ... Musik der Frühe ... sanft in Morgenträume eingesungen schlaf ich ein.

– Ernst Stadler (1883-1914)

Quelle: Ernst Stadler, Der Aufbruch (1914)

Selbst heute noch oder wieder ist das schmale Werk von Ernst Stadler im Buchhandel erhältlich, z. B. bei Amazon.

29.5.20

Stefan George – Ich bin der Eine


Ich bin der Eine und bin Beide
Ich bin der zeuger bin der schooss
Ich bin der degen und die scheide
Ich bin der das opfer bin der stoss
Ich bin die sicht und bin der seher
Ich bin der bogen bin der bolz
Ich bin der altar und der fleher
Ich bin das feuer und das holz
Ich bin der reiche bin der bare
Ich bin das zeichen bin der sinn
Ich bin der schatten bin der wahre
Ich bin ein end und ein Beginn

Stefan George

Aus: Der Stern des Bundes (1914)

17.1.16

Das oh so poetische Haiku

Weiße Schrift auf weiß.
Schwarze Schrift auf schwarz. Na, wer
das nun lesen soll.

– Iself (© 2016)

Auslöser dieses Haiku war ein Gedicht, in dem der Autor es wohl als besonders poetisch empfand, wenn etwas weiß auf weiß geschrieben wird. Hat sicher etwas mit dem Mysterium der Nichtlesbarkeit zu tun. Ihr wisst schon ... zwischen den Zeilen lesen. Nur dass in diesem Fall nicht einmal Zeilen da sind. Es lebe der Gefühlskitsch aktueller deutscher Internet-Poesie.

18.3.15

Pour une poésie hors d’haleine

(P. de Celan, Le malheur de la poésie contemporaine allemande)


I

Du schlichst dich davon ohne ein Sterbenswort
und ließest mich allein in meinen Schwanenplüschhausschuhen.
Der Himmel war weiß, so weiß.

Und morgen kommst du todsicher wieder ohne Sterbensworte
und unter blassem Himmel.

Vor Wochen hast du mich einmal angeschrien mit
Donnerwetter unter einem schwarzgelben Himmel mit Blitzen


II

Hör auf mit deinen hingehauchten Sterbenswörtchen!
Lebensworte will ich hören,

Lebensworte, Schreie, Flüche, Gelächter
auf einer mit Füßen betretenen Erde unter einem Himmel,
der so ist wie er ist.

– Johannes Beilharz (© 2016)