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28.3.25

Das Gedicht hört hier einfach auf



Das Gedicht hört hier einfach auf.
– R. D. Brinkmann

Und dabei hatte es so richtig schön angefangen
im Kopf seines Autors, der gerade in einem Flugzeug
von Rom nach Palermo saß, sich beengt fühlte,
da er zwischen zwei massigen Personen

auf dem Mittelsitz saß, sich fragte, ob man nicht
doch vielleicht, wie es früher üblich gewesen war,
zumindest ein paar Erdnüsse bekommen würde,
aber nein! Nur ein Glas Wasser gab es,

und für Toilettenbesuche musste man (noch)
nicht zahlen. Aber nun zu dem Gedicht an sich,
das über den Status von etwas unsagbar Schönem
nicht hinauskam und jetzt hier einfach aufhört,

so brutal und anstandslos wie einst bei R. D.
circa neunzehnhundertfünfundsiebzig.

Johannes Beilharz (© 2025)

Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) war ein Dichter und Romancier. Das Zitat ist das Ende seines Gedichts Ein Gedicht, das 1975 veröffentlicht wurde.

Englische Version 

Luis Cuauhtémoc Beriozábal / Ein Strahl Hoffnung

Ein Strahl Hoffnung

Zu müde, um den Morgen
zu begrüßen oder den
Nachmittag, nachts wird es
dasselbe sein. Ich brauche
einen weiteren Tag, um meine
Gedanken ins Reine zu bringen.
Ich denke nicht wie die
andere Seite. Mir liegt 
nichts daran, zu denken wie 
die andere Seite. Ich weiß,
sie werden niemals so denken
wie wir. Es ist ein
Kampf, in den Himmel
zu sehen und einen
Strahl Hoffnung zu suchen.
Ich starre in die
Sonne und zerstöre
einen Augenblick lang
meine Netzhaut. Ich
werde mir nicht die Augen
ausreißen. Ich werde
die Welt nicht ändern, nicht
zum Besseren.

– Luis Cuauhtémoc Beriozábal

Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz. Titel des Originals: Ray of Hope, veröffentlicht in Unlikely Stories Mark V.

Über den Autor
Luis Cuauhtémoc Berriozábal lebt in West Covina, Kalifornien, arbeitet in Los Angeles County und ist der Autor von Raw Materials (Pygmy Forest Press). Seine Lyrik, Prosa und Kunst ist in Black Petals, Blue Collar Review, Mad Swirl, Cowboy, River Dog Press und Yellow Mama Webzine erschienen. Seine Broadsides, Chapbooks und Gedichtbände sind bei Alternating Current Press, Deadbeat Press, Four Feathers Press, Kendra Steiner Editions, New American Imagist, New Polish Beat, Poet's Democracy, Rogue Wolf Press und Ten Pages Press erschienen. 

21.3.25

Das Elfenbeinturm-Haiku

Keine Klagen zu

diesem Bau! Kommt mit Buddhas

Leere. Das ist gut.

– Leonard Blumfeld (© 2025)

Anmerkung
Angeregt von einem Spiegel-Zitat, das da allwisserisch behauptete, “Wer Gedichte schreibt, sitzt nicht immer im Elfenbeinturm, sondern manchmal einfach nur im eigenen Garten oder zu Tisch.” Was sollen wir Dichter zu einer solchen generellen, fast regulatorischen Aussage sagen? Wir sitzen halt da, wo wir eben sitzen, außer wir liegen oder stehen oder tun sonstwas. Gelegentlich ja auch dichten.

Heute ist anscheinend World Poetry Day – das trifft sich ja gut!

Englische Fassung

1.1.25

Robert Creeley: Du

 


Vor und zurück durch
die Zeit, viele Dinge,
für die man jemand

braucht, der einem die Hand hält.
Stolpere nicht im Dunkeln. Geh
weiter. Das ist Leben.

– Robert Creeley


Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz (© 2024)
Titel des Originals: You. Aus: Robert Creeley, A Day Book, Scribner’s, 1972

23.5.24

Ein Gedicht, das nie geschrieben werden wollte

Würde man es fragen
– was absurd ist –
würde es nichts sagen
oder verwundert
mit den Wimpern klimpern

Denn Wimpern wurden ihm
angedichtet –
lange, sanft gebogene,
fast wie aus dem Schönheitssalon

– Nicole Weiß (© 2024) 

16.3.23

Octavio Paz – Tanghi-Garu-Pass

 


Tanghi-Garu-Pass

Ein belastetes Land:
Der Winter hat es mit seinen Waffen gezeichnet,
Dornenkleid war der Frühling.

Berge von Glimmer. Schwarze Ziegen.
Unter den schlafwandlerischen Hufen
Schimmert missbilligend der Schiefer.

Feststehende Sonne, angenagelt
An die riesige steinerne Narbe.
Der Tod denkt uns.

– Octavio Paz

Titel des spanischen Originals: Paso de Tanghi-Garu. Aus: Octavio Paz, Ladera Este, 1969. Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz. Der Pass im Titel des Gedichts, auch Tang-e Ghārō geschrieben, befindet sich in Afghanistan an der Strecke von Dschalalabad nach Kabul.

Foto von Octavio Paz von Ricardo Salazar

20.9.20

Yannis Ritsos - Vollständigkeit, beinahe

 VOLLSTÄNDIGKEIT, BEINAHE

Weißt du, den Tod gibt es nicht, sagte er zu ihr.
Ich weiß, ja, jetzt, nachdem ich tot bin, antwortete sie.
Deine zwei Hemden sind gebügelt und in der Schublade,
das einzige, was ich vermisse, ist eine kleine Rose.

– Yannis Ritsos

Übertragen von Johannes Beilharz. Titel des griechischen Originals: ΣΧΕΔΟΝ ΠΛΗΡΟΤΗΤΑ.

Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung


15.6.20

Allen Ginsberg – An Lindsay



An Lindsay

Vachel, die Sterne sind rausgekommen
Dämmerung liegt auf der Straße in Colorado
ein Auto kriecht langsam über die Ebene
im gedämpften Licht plärrt Jazz aus dem Radio
der Verkäufer mit gebrochenem Herzen zündet sich eine weitere Zigarette an
In einer anderen Stadt vor 27 Jahren
sehe ich deinen Schatten an der Wand
du sitzt in Hosenträgern auf dem Bett
die Schattenhand hält dir eine Pistole an den Kopf
dein Schatten fällt um und zu Boden

Paris 1958

– Allen Ginsberg

Das Original To Lindsay stammt aus Kaddish and Other Poems 1958-1960, erschienen 1961 bei City Lights Books in San Francisco. Übertragen aus dem amerikanischen Englisch von Johannes Beilharz. Das Gedicht bezieht sich auf Vachel Lindsay (1873-1931), einen zu Lebzeiten recht bekannten amerikanischen Dichter.

12.6.20

Ernst Stadler – In der Frühe


In der Frühe

Die Silhouette deines Leibs steht in der Frühe dunkel vor dem trüben Licht
Der zugehangnen Jalousien. Ich fühl, im Bette liegend, hostiengleich mir zugewendet dein Gesicht.
Da du aus meinen Armen dich gelöst, hat dein geflüstert »Ich muß fort« nur an die fernsten Tore meines Traums gereicht –
Nun seh ich, wie durch Schleier, deine Hand, wie sie mit leichtem Griff das weiße Hemd die Brüste niederstreicht ...
Die Strümpfe ... nun den Rock ... Das Haar gerafft ... schon bist du fremd, für Tag und Welt geschmückt ...
Ich öffne leis die Türe ... küsse dich ... du nickst, schon fern, ein Lebewohl ... und bist entrückt.
Ich höre, schon im Bette wieder, wie dein sachter Schritt im Treppenhaus verklingt,
Bin wieder im Geruche deines Körpers eingesperrt, der aus den Kissen strömend warm in meine Sinne dringt.
Morgen wird heller. Vorhang bläht sich. Junger Wind und erste Sonne will herein.
Lärmen quillt auf ... Musik der Frühe ... sanft in Morgenträume eingesungen schlaf ich ein.

– Ernst Stadler (1883-1914)

Quelle: Ernst Stadler, Der Aufbruch (1914)

Selbst heute noch oder wieder ist das schmale Werk von Ernst Stadler im Buchhandel erhältlich, z. B. bei Amazon.

3.6.20

Robert Creeley – Kiki


Kiki

World in a
plastic octa-
gon from a
most perspica-
cious daughter.

❍❖❍❖❍❖❍❖

Kiki

Welt in einem
Plastikokta-
gon von einer
höchst scharf-
sinnigen Tochter.

– Robert Creeley

Aus: Robert Creeley, A Day Book, 1972. Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz.

29.5.20

Stefan George – Ich bin der Eine


Ich bin der Eine und bin Beide
Ich bin der zeuger bin der schooss
Ich bin der degen und die scheide
Ich bin der das opfer bin der stoss
Ich bin die sicht und bin der seher
Ich bin der bogen bin der bolz
Ich bin der altar und der fleher
Ich bin das feuer und das holz
Ich bin der reiche bin der bare
Ich bin das zeichen bin der sinn
Ich bin der schatten bin der wahre
Ich bin ein end und ein Beginn

Stefan George

Aus: Der Stern des Bundes (1914)

24.5.20

Arrhythmie – ein Mikrogedicht von Ajo


Arrhythmie

Ich hasse die Liebe 
und hasse sie außerdem 
mit deinem Herzen.

✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ ✼ ❖ 

Aritmia

Odio el amor 
y además lo odio 
con tu corazón.

– Ajo (© 2004)

Übertragung ins Deutsche von Johannes Beilharz (© 2020)

15.5.20

William Carlos Williams: Komm schon!

Komm schon!

Eine andere Art von Gedanke
fader
und verzweifelter
wie jener von
Sergeant Soundso
an der Straße
in Belleau Wood:
Komm schon!
Willst du ewig
leben? –
Das
ist das Wesen
der Dichtung.
Aber sie nimmt nicht
immer
dieselbe Form an.
Größtenteils
besteht sie
daraus,
der Nachtigall
zuzuhören
oder Narren.

William Carlos Williams, Come on!, aus Pictures from Brueghel and other poems, New Directions, 1962.

Aus dem Amerikanischen von Johannes Beilharz (Copyright © 2020).

8.5.20

Minimale Philosophie

Filosofia minimale

Io butto
tutto

– Iself (© 2020)

Dies ist in diesem schönen sonnenverwöhnten Lande (wie auch anderswo) leider Gottes eine Philosophie, die viele Anhänger hat.

Zur Verdeutlichung für die der italienischen Sprache nicht mächtige Leserschaft hier auch gleich eine deutsche Version:

Minimale Philosophie

Auch ohne Sinn und Zweck:
ich schmeiße einfach alles weg

– Iself (© 2020)

29.3.19

W. S. Merwin – Es ist März

Es ist März

Es ist März und schwarzer Staub fällt aus den Büchern
Bald werde ich weg sein
Der große Geist der hier gelebt hat
Ist schon gegangen
Auf den Alleen liegt der farblose Faden unter
Alten Preisen

Wenn du zurückschaust ist da immer die Vergangenheit
Selbst wenn sie verschwunden ist
Aber wenn du nach vorne schaust
Mit deinen schmutzigen Knöcheln und dem flügellosen
Vogel auf der Schulter
Was kannst du da schreiben?

Die Bitterkeit steigt in den alten Minen immer noch hoch
Die Faust kommt aus dem Ei
Die Thermometer aus den Mündern der Leichen

In einer bestimmten Höhe
Sind die Schwänze der Drachen einen Augenblick lang
Von Fußschritten bedeckt

Was immer ich zu tun habe hat noch nicht begonnen

(It Is March, 1964)

Deutsche Übertragung von Johannes Beilharz zu Ehren des amerikanischen Dichters W. S. Merwin, am 15.3.2019 im Alter von 91 Jahren verstorben.

8.1.19

Übersetzungen in Arbeit

Bevor sich hier die Todesstille voll verbreitet ... ich arbeite schon seit längerer Zeit an Übersetzungen von Gedichten mehrerer Autoren aus dem Englisch und Spanischen.

Sie werden irgendwann in nächster Zeit hier und anderswo auftauchen.

15.5.17

Paul Eluard: Ich liebe dich

Ich liebe dich

Ich liebe dich für alle Frauen, die ich nicht gekannt habe
Ich liebe dich für alle Zeiten, die ich nicht gelebt habe
Für den Geruch des weiten Meers und den Geruch des warmen Brots
Für den schmelzenden Schnee, für die ersten Blumen
Für die unschuldigen Tiere, die der Mensch nicht erschreckt
Ich liebe dich um zu lieben
Ich liebe dich für alle Frauen, die ich nicht liebe

Wer spiegelt mich besser als du, ich sehe mich so wenig
Ohne dich sehe ich nichts als eine wüste Weite
Zwischen einst und heute
Da sind alle diese Tode, die ich auf Stroh überwand
Ich konnte die Mauer meines Spiegels nicht durchbrechen
Ich musste das Leben Wort für Wort erlernen
Wie man vergisst

Ich liebe dich für die Klugheit, die nicht meine ist
Für die Gesundheit
Ich liebe dich gegen alles, was nur Illusion ist
Für dieses unsterbliche Herz, das nicht mir gehört
Du glaubst Zweifel zu sein und bist doch nur Vernunft
Du bist die große Sonne, die mir in den Kopf steigt
Wenn ich mir meiner sicher bin.

– Paul Eluard

(Übersetzung aus dem Französischen von Johannes Beilharz. Die Vorlage stammt aus Le phénix, 1951)

18.10.16

Das hermetische Haiku

Es ist verschlossen,
viermal verschlossen – Gefühl,
Gehör, Klang, Ort.

– Iself (© 2016)

Anmerkung
So ziemlich symptomatisch für das Schweigen dieses Blogs in den letzten Monaten.