14.2.25

Es muss wirklich nicht immer Kaviar sein


Eine persönliche Erinnerung

Der 1960 erschienene Roman Es muss nicht immer Kaviar sein – eine Mischung aus Schelmenroman und Spionageroman oder Spionageromanparodie – war der einzige Simmel, den ich jemals gelesen habe. Das Buch, ein Taschenbuch von Knaur, habe ich sicher noch in einer gelagerten Kiste. Gekauft – wahrscheinlich in Freudenstadt, weil’s da gleich zwei gute Buchhandlungen mit einem ordentlichen Sortiment gab – und konsumiert habe ich den umfangreichen Schmöker so etwa 1972. Gerade habe ich in der Wikipedia die kurze Zusammenfassung der Handlung gelesen, um meine eigenen Erinnerungen zu prüfen, und dabei festgestellt, dass ich mich an so gut nichts erinnere, außer dass mich die Kochrezepte und eingehenden Koch- und Essbeschreibungen schon damals im reifen Alter von etwa sechzehn unsäglich langweilten und ich sie alle größtenteils übersprungen habe. Heute würde es mir sicher nicht anders gehen. Kaviar habe ich auch nie gemocht und nie verstanden, was an diesen salzigen Eiern so besonders sein soll. An die zahlreichen Frauen, auf die der Held bzw. Antiheld im Laufe des Romans trifft, kann ich mich ebensowenig erinnern – ausgenommen eine Französin namens Chantal, deren Name mir gefiel und vermutlich auch etwas an ihrem geschilderten Charakter. Leseempfehlung? Jein. Leute, die auf Kochrezepte, MasterChef und Kochrituale stehen, sollten sich dieses Buch nicht entgehen lassen. Für andere ist der Roman vielleicht literaturhistorisch und historisch interessant – er spielt in der Zeit des kalten Krieges und wurde auch während dieser Zeit geschrieben, hat also etwas Authentisches. Was mir nun doch noch eingefallen ist: in einem Kochkapitel wird ausführlich beschrieben, was beim Salatwaschen zu tun ist, damit es nur ja kein einziger Wassertropfen bis in die Salatschüssel schafft – was einem kulinarischen Verbrechen gleichkäme. Wer keine anderen Sorgen hat!

– Iself (© 2025)

1.1.25

Robert Creeley: Du

 


Vor und zurück durch
die Zeit, viele Dinge,
für die man jemand

braucht, der einem die Hand hält.
Stolpere nicht im Dunkeln. Geh
weiter. Das ist Leben.

– Robert Creeley


Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz (© 2024)
Titel des Originals: You. Aus: Robert Creeley, A Day Book, Scribner’s, 1972

11.9.24

Runde Zeit

 

   

Habe ich heute
doch tatsächlich um zwölf Uhr
auf die Uhr geschaut

– Iself (© 2024)

30.7.24

Zwei minimalistische Gedichte von Aram Saroyan


 

I.


                  pagner
Cham.

II.


esstc.


Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Diese winzigen Gedichte sind Bestandteil der Sammlung Electric Poems von 1972, die in den Complete Minimal Poems (Ugly Duckling Presse, 2013) enthalten ist.




12.6.24

Schmelzende Eiskrem am Rand deines letzten Gedankens

 


Na ja, nennen wir’s ein

Leben.

– Richard Brautigan

Übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original befindet sich in Richard Brautigan, Rommel Drives On Deep Into Egypt (1970).

Foto von Richard Brautigan, Datum und Urheber unbekannt.

Krad-Haiku, frühmorgens

 


Im Hinterhof bruttelt
eine Möchtegern-Harley
so vor sich hin.

– Iself (© 2024)

Anmerkung des Autors
Beruht auf authentischer Erfahrung. Unmittelbar lyrisch umgesetzt.


2.6.24

José Moreno Villa / Die Wahrheit

 


Die Wahrheit

            Für mich gibt es eine Zeile am Himmel.
Ich sehe sie, ich schaue sie an;
ich kann sie nicht übersetzen,
sie ist verschlüsselt.
Ich verstehe sie mit meinem ganzen Körper;
aussprechen kann ich sie nicht.

– José Moreno Villa

Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz (© 2024).
Aus: Diez siglos de poesía castellana, Hrsg. Vicente Gaos, Madrid 1975.

Der spanische Dichter, Übersetzer, Essayist und Maler José Moreno Villa (geb. 1884 in Málaga, gest. 1955 in Mexiko) studierte Chemie in Freiburg im Breisgau, dann Geschichte in Madrid. Er arbeitete in Madrid als Bibliothekar und später als Archivar. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs übersiedelte er in die USA und später nach Mexiko. Er war Mitglied der Dichtergruppe Generación del 27, zu der u.a. auch Federico García Lorca, Rafael Alberti, Jorge Guillén and Vicente Aleixandre gehörten.

Spanisches Original:


La verdad

            Un renglón hay en el cielo para mí.
Lo veo, lo estoy mirando;
no lo puedo traducir,
es cifrado.
Lo entiendo con todo el cuerpo;
no sé hablarlo.

– José Moreno Villa

23.5.24

Ein Gedicht, das nie geschrieben werden wollte

Würde man es fragen
– was absurd ist –
würde es nichts sagen
oder verwundert
mit den Wimpern klimpern

Denn Wimpern wurden ihm
angedichtet –
lange, sanft gebogene,
fast wie aus dem Schönheitssalon

– Nicole Weiß (© 2024) 

1.3.24

Der Grund meines Unglücks

ist der Widerspruch zwischen Soll und Ist – 
und somit hausgemachter Mist

– Iself (© 2024)

Ein Zitat aus dem Buch Jeder kann unglücklich sein, das in naher oder fernerer Zukunft das Licht der Welt erblicken wird.

11.1.24

Perlen literarischer Prosa I


“Die kleine Blondine an der Telefonanlage spitzte ein muschelförmiges Ohr und lächelte ein kleines flauschiges Lächeln. Sie wirkte verspielt und eifrig, aber nicht sehr selbstsicher, wie ein neues Kätzchen in einem Haus, in dem man sich nicht viel aus Kätzchen macht.”

– Raymond Chandler

Aus: The Lady in the Lake, 1943. Zitat übersetzt von Johannes Beilharz.

16.12.23

Aus den magnetischen Feldern

 


“Das unermessliche Lächeln der ganzen Erde hat uns nicht genügt: wir brauchen noch größere Wüsten, Städte ohne Vororte und tote Meere.”

– André Breton & Philippe Soupault

Ein Zitat aus Les Champs magnétiques der Surrealisten André Breton und Philippe Soupault, verfasst 1919 unter Anwendung der von den beiden Autoren erfundenen Methode des automatischen Schreibens. 

Das Zitat hat etwas annähernd Prophetisches – wenn Klimawandel und Umweltvernichtung fortschreiten wie bisher, bekommen wir wohl in absehbarer Zukunft das, was sich die Autoren da so beschwingt automatisch gewünscht haben.

Zitat übersetzt und Nachbemerkung von Johannes Beilharz.

Der oben abgebildete Buchdeckel ist der einer Neuveröffentlichung bei Poésie / Gallimard von 1971.

15.12.23

Legenden des Wilden Westens in Künstlerbildern

1. Old Shatterhand bringt Nscho-tschi das Schießen bei oder umgekehrt


2. Evil Long Silver kommt aus dem Saloon – nur sein Pferd verharrt angezurrt; alle anderen sind geflohen


3. Bevor es Mount Rushmore gab, gab es diese Desperados als Vorbilder (von links nach rechts: Rusty Reagan, Cliff Mystic Rousevelt, Curt Colbain, Red Hot Moon)


4. Wild Bill Clinger auf Bronco Billy


5. Bill “The Lip” Clynton und Sitting Bulldog


6. Justin “Red” Rydler mit seiner geliebten Remington



20.11.23

Nan Witcomb – Im Kopf liebe ich den Geschmack des Lebens

 


Im Kopf 
liebe ich den Geschmack des Lebens – 
In Wirklichkeit jedoch 
geht die Süße 
oft in der Verwirrung
des Lebens verloren ...

– Nan Witcomb

Ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz im November 2023 zu Ehren der diesen Monat im Alter von 95 Jahren verstorbenen australischen Autorin.

9.11.23

Richard Brautigan – Endlich stimmen unsere Körper überein

 


Endlich stimmen unsere Körper überein.
Ich wette, du dachtest, das 
würde nie geschehen. Auch ich 
hielt es für unwahrscheinlich.
Eine angenehme Überraschung.

– Richard Brautigan

Originaltitel: “At Last Our Bodies Coincide”, aus Richard Brautigan, Rommel Drives On Deep Into Egypt (1970). Ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz.

7.9.23

A movie date

 


(A tale from a not so distant past)

Dedicated to Zoyâ Pirzâd

Morad had not arrived by the agreed time, was already fifteen minutes late. 
She’d gone to the window umpteen times, pulled aside the curtain and looked out for him. 
To avoid her mother’s suggestive glances and silence, she left the house and walked down the street to the public phone booth. Occupied by weighty and visibly sweating Mme Samadani, engaged in never-ending chitchat. 
When her turn finally came, Morad’s mother had no clue where he was. Maybe he’d simply forgotten, she surmised with a cascade of laughter. This cascade of laughter was soon to be her mother-in-law. Provided, of course, that Morad could be forgiven for not showing up on time.
To top it all off, Morad had arrived when she returned, listening attentively to her mother’s detailed description of how to knit God knows what.
Things did not bode well for the planned movie outing.
They would miss the beginning of the film, and she hated to miss the beginning of a story.
In fact, even the time before the beginning was essential, because Morad would be able to buy popcorn and drinks for the two of them. Allowing them to enter when the lights were still on, allowing them to see the previews.
The whole world, including his cascading mother and her own mother, thought this man was a great catch. 
But would he prove himself worthy ... at the right time?

– Johannes Beilharz (© 2023)

Author's note
Reading the book Le goût âpre des kakis (published by Zulma in Paris in 2009) by Iranian author Zoyâ Pirzâd, pictured above, inspired this story.

German version: Eine Kinoverabredung