2.4.22

Dmytro Chystiak – Lebendiges Land

Lebendiges Land

   

Für Anastassiya Kobzina und Ilia Solovyov, in memoriam


І

Mein Großvater starb ohne ein Wort über den Krieg.

Ohne ein Wort über den Krieg starb meine Großmutter.

Über Hunger und Arbeit an der Front

Ließen sie ein paar harte Worte fallen, mehr nicht.

Der 9. Mai war der größte ihrer Feiertage,

Ihre Lieder, ihre Tränen, ohne ein Wort über den Krieg.

“Ich werde nicht reden, mein Herr! 

Nie wieder, nie wieder. Wir werfen dich

Auf den Karren und dann ins Massengrab.”

Die Worte meiner Großmutter an ihrem Grab.


ІІ

In meinem Bücherregal, unter den Bombardements,

Die mit Orden bedeckte Uniform meines Großvaters,

Sein Dolch (17 Jahre alt, Schtscholkowo bei Moskau,

Dann die Nordsee, viele Tote

In diesem Land aus Eis, dann der Gesang,

Fußball, Kachowka und Kiew, die Liebe seines Lebens,

Die mich auch heute noch zum Lächeln bringt),

Die Medaillen meiner Großmutter, Tochter des Krieges

(Kindheit in der Kolchose, alles für die Front,

Und ein freundlicher Deutscher sagt “Versteck dich!”,

In der Region Winnyzja ein ganzer Winter,

Auf dem Dachboden versteckt sie sich, und die Ostarbeiter werden abgeholt.

Dann der Gesang, der Sozialismus und der Absturz

Und seine Recherchen über Stalins große Hungersnot),

Sie bleiben trotzdem zusammen, mit

Zwei Schwesterrepubliken, in den Bücherregalen,

Unter den Bombardierungen, explodieren dann.


ІІІ

Dieses Winterland ist lebendig, tief.

Kein Wort über den Krieg in ihrem gemeinsamen Grab.

Die Rakete weckt sie auf, wie sie es im Heiligtum von Babi Yar tat,

Und sie kommen aus der anderen Welt, aber ich weiß,

Sie sind nicht auf der anderen Seite, sie schließen sich

Uns an. Und meine Großmutter verharrt

Mit den Freiwilligen, und mein Großvater mit den Matrosen,

Auf unserer Seite, bei denen, die den Kosaken folgen,

Denen, die die Angst ignorieren und sich

Ungeschützt auf Panzer werfen, in der Steppe,

Wie zu den Zeiten der Hellenen, in diesem alten Land

Wo "Ruhm!" fällt, Donner auf Donner.


ІV

Dieses Winterland ist noch lebendig, so weit weg.

Mein Großvater aus Schtscholkowo kämpft,

Meine Großmutter aus Hajssyn bleibt standhaft,

Hinter ihnen der Widerhall von Dunkelheit über Dunkelheit,

Lichtern über Lichtern, Welten über Welten,

Blutig, auf den Kreuzen wachsen

Die Rosen des himmlischen Jerusalem,

Ihr Blut vereint Konstantinopel und Kiew,

Das Rubedo der wiederauferstandenen Städte,

Jahrhundert um Jahrhundert, Tempel um Tempel,

Um unseren gemeinsamen Baum zu gießen,

Auf einen Frühling hin, der endlich zu erkennen ist.


Verfasst am 7.3.2022 in Kiew


– Dmytro Chystiak


Aus einer vom Autor erhaltenen englischen Fassung mit seiner freundlichen Genehmigung ins Deutsche übersetzt von Johannes Beilharz.

22.1.22

Kabir – Verleumdung

 


Verleumdung

   

Verleumdung! Verleumdung! 

     Die Leute verspotten mich –  

die Leute lieben es wirklich

     zu verleumden und zu beflecken.

Verleumdung ist mein Vater,

     Verleumdung ist meine Mutter.


Wenn dein Name angeschwärzt wurde,

     gehst du nach Vaikuntha –  

die Bedeutung des wahren Namens

     wird sich in deinem Geist festsetzen.


Es gibt so viel Verleumdung,

     mein Herz ist geläutert –  

mein Verleumder

     schrubbt meine Kleider sauber.


Wer mich verleumdet

     ist mein Freund – 

mein Herz öffnet sich

     jedem Verleumder.


Wer aufhört, mich zu verunglimpfen,

     ist mein wahrer Kritiker – 

ein solcher Anprangerer

     macht mir das Leben zur Hölle.


Die Verleumdung ist

     meine innig Geliebte – 

Verunglimpfung bringt mich

     in ihre Schuld.


Jeder

     schleudert Schlamm auf Kabir – 

mein Verleumder ertrinkt,

     ich lande am anderen Ufer.


Kabir (1398-1448)

Aus: Kabir – The Weaver’s Songs, ins Englische übersetzt von Vinay Dharwadker (Penguin Books India, 2003). Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz (© 2022).

Kabir in satirischer Stimmung. Seine Antwort auf Verleumdung erinnert an Jesus’ subversiven Rat, die andere Wange hinzuhalten.

10.1.22

Alexander Lernet-Holenia - Mars im Widder

 


“Ich habe zum Beispiel gelesen, daß jemand einmal einen Straßenunfall und dabei das Bewußtsein verloren hatte. Als er wieder zu sich kam, fand er sich in seinem Bette liegen, und neben dem Bette saß einer seiner Freunde, von dem er wußte, daß er seit langem verstorben sei.

‘Wie kommst du denn hierher?’ fragte er ihn. ‘Du bist doch tot!’

‘Du auch’, sagte der andere.”

– Alexander Lernet-Holenia, Mars im Widder (Erstdruck 1941, vor Auslieferung verboten)

Einer meiner Lieblingsromane, den ich gerade mit großem Vergnügen zum vierten oder fünften Mal lese.


8.1.22

José Antonio Labordeta - Aragón (1977)


Aragón

Polvo, niebla, viento y sol,
Donde hay agua una huerta.
Al Norte los Pirineos:
Esta tierra es Aragón.

Al Norte los Pirineos
Al Sur la tierra callada.
Pasa el Ebro por el centro
Con su soledad a la espalda.

Dicen que hay tierras al Este
Donde se trabaja y pagan.
Hacia el Oeste el Moncayo
Como un Dios que ya no ampara.

Desde tiempos a esta parte
Vamos camino de nada.
Vamos a ver cómo el Ebro
Con su soledad se marcha.

Y con él van en compaña
Las gentes de estas vaguadas,
De estos valles, de esta sierra,
De estas huertas arruinadas.

Polvo, niebla, viento y sol,
Donde hay agua una huerta.
Al Norte los Pirineos:
Esta tierra es Aragón.

~~~~~~~~~~~

Aragon

Staub, Nebel, Wind und Sonne,
Wo es Wasser gibt, ein Obstgarten.
Im Norden die Pyrenäen:
Dieses Land ist Aragon.

Im Norden die Pyrenäen
Im Süden das stille Land.
Der Ebro fließt durch das Zentrum
Mit seiner Einsamkeit im Rücken.

Es heißt, dass es im Osten Länder gibt
In denen es Arbeit gibt, die bezahlt wird.
Im Westen der Moncayo
Wie ein Gott, der nicht mehr beschützt.

Seit undenklichen Zeiten
Sind wir auf dem Weg ins Nichts.
Sehen zu, wie sich der Ebro
Mit seiner Einsamkeit verabbschiedet.

Und mit ihm zusammen gehen
Die Menschen dieser Senkungen,
Dieser Täler, dieser Berge,
Dieser zerstörten Obstgärten.

Staub, Nebel, Wind und Sonne,
Wo es Wasser gibt, ein Obstgarten.
Im Norden die Pyrenäen:
Dieses Land ist Aragon.

Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz (2022)

Eines der bekanntesten Lieder des spanischen Sängers, Schriftstellers und Politikers José Antonio Labordeta (1935-2010). Erstmals veröffentlicht auf der LP Cantar i callar (1974).

Influencers

 


They all sound and behave like clones who don’t even know what they’re cloning.

– Iself (2022)

Photo by Mateus Campos Felipe on Unsplash

12.11.21

Some cats


Some cats

Some like it wild,
Some like it hot,
Some like it in a bag,
And why not!

– Felix Morgenstern (© 2021)

19.6.21

Now, if I were

Charles Bukowski,
I wouldn’t even
feel bad about being
a pessimistic antisocial
old grouch.

I’d simply curse at
what angers me
and not waste a thought
on whether that’s
wrong or right

or whether
somebody
might give a fuck.

– Iself (© 2021)

19.3.21

Alles wird gut

 

“Alles wird gut”

Wenn man’s richtig bedenkt, dann hätte – aufgrund von mangelnder Sicherheit bezüglich der letztendlichen Wahrheit dieser in diesen herausfordernden Tagen so beliebten zukunftsorientierten Aussage – das genaue Gegenteil, also “Alles wird schlecht”, eine 50-prozentige Chance, ebenfalls einzutreffen. 

Am wahrscheinlichsten ist aber zweifellos die Aussage “Alles wird irgendwie”, die wegen ihrer weit offenen Unbestimmtheit alles zulässt und somit einen Wahrheitsgehalt von 100 Prozent hat.

– Iself (© 2020)

24.2.21

Im Osten nichts Neues

 


Hämmern, Bohren, Schleifen jeden Tag – 
das ist’s, was der Nachbar mag.

– Felix Morgenstern (© 2021)

Nachbemerkung
So versüßt der Nachbar im Osten nun schon seit Jahren die Tage.

Foto von Benjamin Trösch auf Unsplash

15.12.20

Sarah Kirsch – Queen Hortensia


At the castle gate there is a green hortensia. Green leaves, green flowers. When the leaves droop, I take a plastic jug and run for water. Queen Hortensia.

– Sarah Kirsch

Translation by Johannes Beilharz. Source: Sarah Kirsch, La Pagerie, dtv, 1984.

Translator's note
By calling the flower Queen Hortensia, the author appears to obliquely allude to Hortense de Beauharnais (1783-1837), queen consort of Holland and stepdaughter of Napoleon I.

14.12.20

Cookies of the undesirable kind

 

I’m getting diabetes from all the cookies on my PC.

– Iself (© 2020)

Every Joe Goggle Blow wants to sick the saccharine crap onto your computer to give you that oh so enhanced user experience. User experience my ass – they just want to track you so they can send their advertising experience after you.

7.10.20

No views today

No views today,
what will my mother say?

No views – 
I got the blues.

– Felix Morgenstern (© 2020)

Could easily be the beginning of a song, with a melody similar to that of “No milk today” by Herman’s Hermits, which inspired this ditty to some extent. Silly as it may seem, the number of views or likes something gets on the Internet has become extremely (and even monetarily) important for lots of people, so that no views may actually become a cause for the blues.

20.9.20

Yannis Ritsos - Vollständigkeit, beinahe

 VOLLSTÄNDIGKEIT, BEINAHE

Weißt du, den Tod gibt es nicht, sagte er zu ihr.
Ich weiß, ja, jetzt, nachdem ich tot bin, antwortete sie.
Deine zwei Hemden sind gebügelt und in der Schublade,
das einzige, was ich vermisse, ist eine kleine Rose.

– Yannis Ritsos

Übertragen von Johannes Beilharz. Titel des griechischen Originals: ΣΧΕΔΟΝ ΠΛΗΡΟΤΗΤΑ.

Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung